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Der Schritt hinein in die Schwere

Nasta Mancewicz
© Maria Gulina, Mixed Media (2022)
© Maria Gulina, Mixed Media (2022)

Vielleicht war es immer schwer zu schreiben, nicht nur jetzt? Und trotzdem drang von Zeit zu Zeit durch die steinerne Wand etwas Lebendiges. (Nicht) mein Wort. Ein unbekanntes Ich. Vielleicht sollte man die Bemühungen fortsetzen, sich hinsetzen und schreiben, selbst wenn es sinnlos und unmöglich erscheint? Es ist doch das wahrhaftigste Wunder – den Lauf der Zeit zu beobachten und ihn festzuhalten in Form eines hier erscheinenden Textes. Man kann die Aufmerksamkeit darauf lenken und sich von diesem Wunder beeindrucken lassen, man kann auch abwinken – ach, da habe ich schon ganz andere Wunder gesehen. Und weiter schreiben. Einen Schritt hinein in die Schwere tun. („Den Schritt macht man nicht von der Enge weg, hin zur Position des Beobachters, sondern in die Schwere hinein.“ W. W. Bibichin).

Es scheint, hier passiert überhaupt nichts, alles ist wie tot. Das Leben war im Sommer und Herbst 2020, ein Vor-Leben/Verheißung eines Lebens, aber die Geburt fand doch nicht statt. Jetzt befinde ich mich wieder im für mich üblichen Zustand der Erstarrung. Wie bringt man den Mut auf, über das Wichtige zu sprechen – nicht nur über die Oberfläche zu schlittern, aus Angst, an Dunkelheit, Schmerz und Schrecken zu stoßen, sondern tatsächlich diesen Schritt zu tun. Die Augen schließen, die Finger zusammenballen und in das Nichtsein eintreten, das Leben verheißt – und nicht sterben. Nicht verschwinden. Fortbestehen.

In der Luft ist noch die morgendliche Kühle zu spüren – doch die Schwüle nimmt sich immer mehr Raum. Bald wird für nichts anderes mehr Platz sein.

Was kann in dieser Situation Widerstand sein? Dass ich die Konzentration zurückerlange und mich in die Buchlektüre vertiefe? Dass ich weiter über meinen Text nachdenke oder sogar einige Absätze schreibe? Dass ich mein Leben nicht auf das Display des Smartphones und das Verfolgen der Nachrichten einenge? Dass ich Leben in mir und mich selbst lebendig fühle?

***

Gestern dachte ich an meine Eltern, daran, dass ich sie „kenne“, weiß, dass sie zurückkehren werden, ungeachtet des Risikos einer Verhaftung. Mama sagte – Wir kehren zurück, das ist unser Land. Wie sollen wir die Leute aufgeben, als wären wir geflüchtet? Ich weinte, als ich verstand, dass sie diese Wahl treffen werden. Aus Liebe und vor Stolz auf sie. Aus Dankbarkeit. Ich bin das Kind meiner Eltern, ich bin wie ich bin, weil sie sind, wie sie sind. Ich bin ihnen dankbar für mein Wertesystem. Später gab es einen Moment, da schien mir, dass sie doch beschlossen haben, dort zu bleiben. Mein Herz nahm auch diese Entscheidung mit Leichtigkeit an. Ich betrachtete ihre Fotos aus Georgien, die Mama in unserem Familienchat geteilt hatte. Wie glücklich sie und Papa aussahen. Ich freute mich so sehr für sie, dass sie in Sicherheit sind, dass es ihnen dort gut geht, dass es dort so schön ist und sie sich freuen können. Ich betrachtete sie und weinte (wieder), nun (schon) vor Freude. Ich dachte: Interessant, dass beide (so unterschiedliche) Entscheidungen bei mir Tränen hervorrufen. Und dass ich für jede von ihnen bereit bin. Ich wünschte, sie würden dortbleiben, aber die Realität ist wohl, dass sie zurückkommen werden. Wahrscheinlich empfinde ich etwas, was auch L. beschrieben hat – du willst so sehr, dass deine Nächsten an einem sicheren Ort sind, wo sie wertgeschätzt, geliebt und umsorgt sind. Aber wir sind hier.

***

Habe mit I. gesprochen. Es fühlte sich an, als würde sie mit mir sprechen wie mit einem Menschen, der auf dem Hausdach steht und gleich runterspringen will. Als erforderte es einen speziellen Zugang zu Menschen, die sich in Gewaltsituationen befinden und sich dafür entschieden haben, darin zu bleiben.

Doch alles ist wahnsinnig kompliziert. Man muss (und ich tue das) unglaublich komplizierte, unmögliche Entscheidungen treffen. Wie können überhaupt irgendwelche „vernünftigen“ Entscheidungen in einer unnormalen Situation getroffen werden? Die Welt hier ist bereits eine andere. Und ich fühle diese wachsende Mauer zwischen uns. Eine alberne Analogie fällt mir ein – „wir verlieren sie“. Wie ein Werwolf verwandele ich mich hier in jemand anderen. Es war so schwer, mich von I. zu verabschieden. Sie hält mich förmlich an der Hand, versucht mich in ihre Welt zu retten, und es scheint, dass diese Hoffnung (und das Portal) besteht, solange sie mich an der Hand hält. Und ich entziehe meine Hand – und es ist vorbei. Ich kehre wieder in meine Traumwelt zurück.

Doch hier ist Leben.

Hier ist das Leben. Was soll man mit ihm machen? Mit all der Liebe, die es hier gibt? Mit all dieser riesig großen Liebe, die man nicht in einen Koffer packen und mitnehmen kann. Ich möchte so gern alle mit ihr einhüllen, sie retten, schützen – meine Eltern, Shenja und Danat, alle Menschen in den Gefängnissen. Alle.

***

Heute wurden meine Eltern zur Vernehmung abgeholt.

***

Ich schäme mich, fühle mich wie ein Teenager. Andererseits, naja, ich habe mich einfach (unerwartet) verliebt, und das ist wunderbar. Besonders in dieser furchtbaren Zeit. Vielleicht ist mir das ja deshalb gerade jetzt passiert – wie Eros und Thanatos. Man will einfach nur unglaublich ficken inmitten dieses Totentanzes. Das Leben pulsiert einfach, bricht aus mir heraus.

***

Mein vorletzter Tag in Brest. Ein ganzes Leben habe ich in diesen Tagen hier gelebt. Das Haus gefiel mir gleich bei der Ankunft so sehr. Hier habe ich Ruhe und Zuflucht gefunden, begann durchzuatmen, zu atmen. Hier gibt es so viele Plätze, und an jedem kann man sich ein bisschen aufhalten. So viele Bücher – man möchte alle in die Hand nehmen – und sie als „meine“ markieren, sie aufschlagen, darin lesen und (fast) keines beenden. Ein Buch habe ich durchgelesen – da liegt es noch auf dem Tisch im „Schildkrötenzimmer“ – Walter Benjamins „Berliner Kindheit“ – und jetzt sehe ich Parallelen zu dem, was sich hier abspielt, und zu meinen inneren Prozessen.

Es tut so weh.

Ich heile mich mit meiner Verliebtheit – Erinnerungen an das Leben, das weitergeht, an die Tatsache, dass „du leben willst“. Und doch tut es so weh, der Schmerz zerreißt mich von innen.

Als würde dieses Haus, das für eine sehr kurze Zeit mein Unterschlupf geworden ist, plötzlich langsam zerfallen. Ich versuche, es zusammenzuhalten, doch es gelingt mir immer weniger. Alles bricht zusammen, alles, was du liebst, alles, was von Liebe durchdrungen ist. Es tut so weh, dass diese Liebe nicht genügt, um deine Liebsten zu beschützen. Jeder Winkel, jedes Geheimnis, jedes Versteck, alles, worin das Gefühl von Liebe und Glück steckt, alles zerfällt in Stücke, die nur noch an das erinnern, dass hier (früher) einmal etwas war oder gewesen sein muss.

***

Ich bin in Kyjiw. Weit weg von zu Hause fürchte ich sehr, dass es mein Zuhause nicht mehr gibt. Dass es Belarus nicht mehr gibt. Im Land selbst habe ich das so nicht gespürt. Können wir noch etwas tun? Was kann ich persönlich (aus)richten? Außer, weiter die innere Welt aufzubauen in einer Zeit, in der die äußere Welt einstürzt.

Kalt, leer, einsam. A. hat mal gesagt, dass ihre „Krise“ verbunden war mit Einsamkeit, Endlichkeit und der Sinnlosigkeit von allem. Mir scheint, dass ich diesen Zustand, den sie beschrieb, vielleicht die meiste Zeit erlebe. Dass ich hauptsächlich daraus bestehe. Dass meine Kehrseite – die gute, heitere – die, deren Widerschein ich in A. sah (und mich verliebte), versinkt und verblasst in diesem dunklen Abgrund. Man kann sie schon kaum mehr ausgraben, mit Rufen erreichen. Dieses gute, liebe, fröhliche Kind, das das Leben liebt. Ich fürchte mich, A. zu erschrecken, und kann nur hoffen, dass ich ihr genug gefalle, dass sie um mich kämpfen würde. Dass sie auch irgendetwas in mir erkannt hat, das diese Furcht und diesen Hass gegen sich selbst übersteigt.

Was_will_ich?

Ich will weinen

Will, dass A. mir schreibt

Will das Gedicht zu Ende schreiben,

es veröffentlichen, und dass es A. gefällt

Will ihr gefallen

Will mein Haar kurz schneiden

Weiß nicht, was ich noch will

Will nach Hause

Will, dass mich jemand bemitleidet

Will, dass jemand meinen Körper streichelt

Und ich würde weinen. Will geliebt sein

Will ein Buch schreiben.

 

Ich ertappe mich dabei, dass ich versuche, einem anderen Menschen in den Kopf zu kriechen, herauszufinden, woran sie denkt, was sie fühlt, warum sie so handelt und nicht anders. Als Reaktion auf ihre (wie mir scheint) spontanen Textnachrichten beginne ich Abhandlungen zu verfassen, um alles in mich aufzunehmen, einzufrieren oder zu trocknen, in eine Schachtel zu packen und diese zu schließen – sofort stilllegen und vereinnahmen – meins. Ali-Meinemo ist eine Stadt (aus meinem Traum), in der alles so geordnet ist, wie ich es will, eine Stadt, in der sich alle so verhalten, wie ich es brauche. Eine Stadt, in der es außer mir niemanden gibt.

***

Habe mich mit I. getroffen, wir waren den ganzen Tag spazieren. Wir waren in der Orangerie, danach im Wald. I. rettete die ganze Zeit Schnecken, räumte sie vom Weg – und es gab dort unheimlich viele davon. Wir setzten uns ans Seeufer, redeten über allen möglichen unseriösen Quatsch. I. bezahlte die ganze Zeit für mich, sie sagte, ich sei zu Gast, und wir scherzten, dass ich gerade kaum Chancen habe, sie nach Minsk einzuladen und mich zu revanchieren mit Gastfreundschaft. Wir lachten darüber, dass ich in ihrer Schuld stehe und dass mein Wunsch, mich um sie zu kümmern und ihr etwas Gutes zu tun, der letzte noch fehlende Tropfen sein würde, der das Regime zum Einsturz bringt. Wir fuhren Achterbahn und Riesenrad – es war sehr warm und schön. Fast wie in der Kindheit. Die letzten Sommertage, die letzten Tage in Kyjiw. Ich fühlte mich gut und warm an I.‘s Seite, wollte näher an ihr sitzen, ihren Arm berühren, doch ich traute mich nicht, etwas zu sagen oder zu zeigen. Das ist der Ort, an dem ich allein bleibe. Dann fuhren wir zu Bekannten – und ich gab mich völlig auf. Diese ganze Sache, dass dir scheint, alle verachten und hassen dich. Dass sie weiterhin ihre Zeit mit dir verbringen, liegt daran, dass sie Mitleid haben (diese angewiderte Art Mitleid), wie wenn du nicht an einem sterbenden Insekt vorbeigehen kannst, obwohl es Abscheu in dir hervorruft. Bin ich etwa wie diese Schnecke? Ich denke, dass die Menschen mich lieben. Ich weiß das. Ich weiß, dass es in mir etwas Gutes und Wehrloses gibt, das ich nicht verbergen kann und das auch auf die Menschen um mich herum entwaffnend wirkt. Ich selbst bin es, die mich quält und hasst. Die Menschen lieben mich durchaus. Doch auch an diese Liebe kann ich kaum glauben. Zumal ich mich nach einer ganz anderen Liebe sehne. Ich will, dass man von mir begeistert ist, Erregung empfindet, Bewunderung, dass man mich berühren und Sex mit mir haben will.

***

Ich bin in Minsk. Ich verstehe noch nicht ganz, wohin ich zurückgekehrt bin und was ich hier tun soll. Die Menschen verlassen Belarus in Massen. Manche halten sich an der Hoffnung fest, dass sie zurückkehren, aber vielleicht wird es auch nichts mehr geben, wohin man zurückkehren kann. Sie werden nicht zurückkehren … So fließen auch meine Gefühle aus mir heraus. Sie hatten mich mit Freude und Leben gefüllt, jetzt verlassen sie mich – diese Biester. An ihrer Stelle erscheinen und wachsen Leere und Kälte. I. hat mich gestern in Kyjiw zum Bahnhof begleitet, was mich so mit Wärme und Liebe erfüllte, dass ich diesen Abend ins Unendliche ausdehnen will – wie alles in meinem Leben, das ich einst liebte.

***

Ich sitze im Café und warte auf mein Getränk „Aufwärmer“. Habe die Wohnung zeitig in der Früh verlassen, weil mich wieder diese erdrückende Angst befallen hatte, dass sie mich „holen kommen“. Das stete Gefühl der drohenden Gefahr. Ich möchte mich so verstecken, dass mich niemand je findet. Doch diesen Raum kann ich nur in mir selbst schaffen und dorthin fliehen. Oder eben dieses Café finden und mir vorgaukeln, dass mir hier (während ich hier bin) nichts Schlimmes passieren wird. Ich bin in Sicherheit.

Aus unserem Team sind nur T. und ich noch in Belarus. Wir begannen uns öfter zu besuchen, ich fühle mich in ihrer Wohnung warm und sicher – wahrscheinlich macht die Anwesenheit einer Mutter mit Säugling einen Raum per se zu einem sicheren Ort. Die Wiege in der Mitte des Raumes, darin das friedlich grunzende Baby, schönes Dämmerlicht fällt herein und bricht sich an den Wänden. Am letzten Samstag kam ich zu T. zu Besuch, wir redeten bis Mitternacht, ich wollte nach Hause fahren, da sagte T. – Du kannst hier übernachten, da, auf dem Sofa. J. stört nicht beim Schlafen. Und ich wollte so gern Teil ihres Mikrokosmos sein. Nirgendwohin fahren. In dieser Wohnung bleiben, wo im Nebenzimmer eine Mama und ihr Baby schlafen – und mich auch ein Zipfel ihrer Liebe bedecken würde. Doch ich bestehle natürlich keine Säuglinge. – „Ein andermal“. Ich ziehe die Jacke an und gehe hinaus in die Nacht.

Am nächsten Tag tauchen im Netz sehr unangenehme Informationsflüsse (Denunziationen) auf, ich lege mich in die Badewanne, um mich aufzuwärmen, schreibe T. und frage sie – „Wie geht’s dir?“ T. antwortet – „Bin wie gelähmt.“ „Wenn du willst, komme ich zum Übernachten?“ „Ja.“ Da ist es, dieses „Andermal“, gewürzt mit Abschiedsschmerz und dem Betrauern des gestohlenen Lebens. T. weinte die ganze Zeit. Einen Tag später waren sie schon in Georgien.

***

Wenn ich mich endgültig entscheide, in Belarus zu bleiben, fürchte ich, dass in diesem Moment etwas in mir unumkehrbar sterben wird.

***

Ich will endlich so entkräftet sein, dass ich für alles bereit bin. Kann ich diesen Grad an (welches Wort wähle ich hier) Akzeptanz, Selbstaufopferung, Mut, Starrsinn, Überzeugung, Absonderlichkeit, Erschöpfung erreichen – um bereit zu sein für eine Durchsuchung, ein Verhör, eine Festnahme – für die Konfrontation mit dieser Macht und diesem Bösen –, ohne zu zerbrechen, ohne mich zu fürchten, ohne in Verlegenheit zu geraten, sondern mich selbst bewahrend? Ich lese von den Folterungen, die die Menschen weiterhin in den Gefängnissen erleiden – es ist sehr furchterregend. Furcht davor, dass ich dort nicht stark sein kann. Dass ich verlegen werde, zerbreche. Dass ich die Menschen um mich herum nicht unterstützen kann, dass meine schlechtesten Eigenschaften hervorkriechen. Dass ich hinterher mit diesem Wissen über mich selbst nicht mehr leben kann. Oder dass ich es kann.

***

Noch bin ich frei, noch haben sie mich nicht. Diese Gedanken nehmen den Großteil der Zeit ein – und ich denke, ob das einen Sinn hat (welchen), bin ich vielleicht mehr wert (was), und wer legt das fest – was mehr ist und was weniger? Ich denke darüber nach und finde dennoch keinen anderen Weg für mich, oder ich weiß einfach, dieser ist meiner. Ich erinnere mich, wie S. sagte (nicht lange vor der Katastrophe), als sie begannen, gegen uns Unterschriften zu sammeln – dass wir uns politisieren müssen, andernfalls vernichten sie uns in einem Atemzug, wenn sie nur wollen. Sie sprach über LGBTQ-Aktivismus, und all das fand im ganzen Land statt. Mein Ziel und Lebenssinn war, mir einen Platz in Belarus zu schaffen. Nicht in ein „Ghetto“ zu gehen (diese Vergleiche haben mich immer erzürnt), sondern ganz konkret – mit meinem Körper, meiner physischen Anwesenheit, meiner Stimme – einen Platz für mich zu schaffen. Wahrscheinlich habe ich dieses Ziel (in irgendeinem Sinn) auch jetzt noch – täglich meine Anwesenheit hier zu behaupten. Meinen Platz einzufordern. Und vielleicht bin ich wirklich wie ein Blatt am Baum – beeindruckt von dem, was umher geschieht, bin ich an Ort und Stelle erstarrt, kann nirgendwohin und beobachte alles schweigend – und im Frühling werde ich wieder hier sein, nachwachsen – auch wenn das keinen Sinn ergibt. Doch eine Wahl gibt es auch nicht.

***

Ein großes Leid ist geschehen, eine Tragödie. Manchmal gelingt es, sich zwischen alldem einen Platz zum Leben freizuschaufeln. Manchmal gelingt es nicht … So wie gestern … Zum Abend hin implodierte förmlich alles. Und ich bin wieder in der Hölle. Und höre nicht auf, darin zu sein. Es war schmerzhaft, die Reaktionen der Leute auf S.‘s Verhaftung zu lesen. Schmerzhaft für ihn. Ein Kommentar heiterte mich auf (über Freiheit und Treue). Ich wünschte, man würde meiner Entscheidung hierzubleiben mit diesem Respekt begegnen, darin etwas Größeres sehen als „Dummheit“ und „Leichtsinn“, die tieferen Werte darin erkennen. All das wird enden, so oder so wird es enden. Mit vielen Opfern, schwerwiegenden Traumata, für deren Bearbeitung das Leben nicht reichen wird, aber es wird enden. Die Kräfte sind einfach schon dem Ende nah.

Ein weiteres unangenehmes Gefühl, das ich empfunden habe – ist die fast tierische Freude oder Erleichterung, wenn du Nachrichten über die nächste Verhaftung liest und statt mit diesem Menschen zu leiden, findest du Details in seiner Geschichte, die von deinen eigenen abweichen – und suchst weiterhin nach Erklärungen, warum sie die anderen geholt haben, dich aber nicht. Ich will das nicht. M. hatte schon recht, als sie sagte, dass im Konzentrationslager alles so gemacht ist und funktioniert, dass der letzte Rest Menschlichkeit in dir abgetötet wird. Und das ist ein Ticket ohne Rückfahrt, alles hängt nur davon ab, welche Schmerzgrenze der Mensch hat. Doch früher oder später bricht jede*r. Manche sterben einfach vorher … Und manche schaffen es bis zur Befreiung.

***

Gestern bin ich in Wilejka angekommen, niemand hat mich am Bahnhof erwartet – ich wusste nicht, ob jemand kommt oder nicht, aber innerlich habe ich wohl erwartet, dass Papa mich abholt. Im Gehen schien mir, dass er dort neben dem Auto steht (so eine einsame Gestalt) und auf mich wartet – und diese Erscheinung schmerzte mich so – Liebe erfüllte mein Herz und zerbrach es schließlich. Egal was – Schnee, Sturm, Nacht, welche Gedanken und Sorgen in mir sind – er steht dort und holt mich vom Zug ab – eine dunkle, einsame Gestalt inmitten einer verschneiten Stadt, die sich schon schlafen gelegt hat. Ich ging hin, doch er war es nicht – und mein Herz zerbrach ein zweites Mal (und ich weiß nicht, ob ich erklären kann, warum) – wohl vom Gefühl der Tiefe der eigenen Einsamkeit – davon, dass die Liebe schon stattgefunden hat. Sicher, mein Papa, der mich in der verschneiten Heimatstadt erwartet – ist in mir. Doch warum erzeugt dieses Bild solchen Schmerz in mir … So oder so, es gibt noch etwas, jenseits dieser ungreifbaren, unfassbaren Sinne zwischen uns – ergreifend, heiß, nicht einmal nahekommen kann man ihnen, ohne sich zu verbrennen, muss immer einen gewissen Abstand halten. Es gibt Mama und Papa, die durchs Haus gehen (die Stille, die dort vorher war, füllt sich allmählich mit Geräuschen), sie klopfen an Türen, kommen ins Zimmer, unterbrechen mein Schreiben, rufen zum Essen …

***

Wenn ich versuche, Wörter zu finden, die (in denen) mich beherbergen (ich mich verkörpern kann), dann sind das diese – mir tut es leid. Sogar unterstreichen wollte ich das. Was tut mir leid? Nun, alles … Dass alles so ist. Ich will wieder in die Kindheit, dass es die Möglichkeit gäbe, alles zurückzuholen, dass alle am Leben wären, jung, voller Hoffnung und Pläne für die Zukunft, dass ich nicht so viel über das Ende nachdenke. Ich habe P. in der Stadt getroffen, sie fragte – Warum kommst du nicht mal bei uns vorbei? Da bin ich, ganz ehrlich, ausgetickt. Ich war überzeugt, dass es keinen Ort mehr gibt, wohin man gehen kann. Aber es gibt ihn noch, wie es scheint. Als bestünde die Stadt aus mehreren Schichten und man muss ein Geheimnis kennen, um diese Türen sehen und öffnen zu können. Dann sah ich eine Bekannte aus meiner anderen Vergangenheit – wir grüßten einander nicht, doch auch sie war noch hier, genau wie P., und wie ich … Und manchmal, wenn ich zum Gartenbaukurs ging, es wurde schon dunkel, da sah ich unterwegs in einem Fenster einen Bekannten – wir waren nicht gut bekannt, und ich mochte ihn nicht einmal besonders, doch ihn in diesem Fenster zu sehen war schön. Es gibt noch lebendige Menschen hier. Die Stadt ist in eine Menge Flicken zerfetzt. Deshalb treffe ich auch so viele verschiedene Menschen aus verschiedenen Zeiten … Oder bin ich die Zerfetzte?

***

Danat bat mich, den Zug, mit dem ich nach Minsk zurückkehre, auf Video aufzuzeichnen. Ich machte ein Video (gespeichert auf meinem Telefon). Einige Minuten später, wir waren noch nicht weit gefahren, bremste der Zug abrupt. Es stellte sich heraus, dass „wir“ einen Menschen überfahren hatten. Aus den Gesprächen des Zugpersonals, die zu mir durchdrangen, verstand ich, dass der Mensch tot war. „Hackfleisch“, sagte einer. „Wir mussten nicht mal was wegräumen (die Überreste).“ Ich versuche noch immer, in den Nachrichten Hinweise auf diese Tragödie zu finden, doch bislang ist alles still – als sei eben gar nichts passiert.

 

*Dieser Text entstand auf der Grundlage von Tagebuchaufzeichnungen aus dem Zeitraum März 2021 bis Februar 2022.

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