Menu
Suche
Weiter Schreiben ist ein Projekt
von WIR MACHEN DAS

> Einfache Sprache
Logo Weiter Schreiben
Menu

Der Preis des Helden

Ahmed Awny

 

© Walaa Dakak, Eye And I, Acryl auf Leinwand, 150 x 150 cm (2011)
© Walaa Dakak, Eye And I, Acryl auf Leinwand, 150 x 150 cm (2011)

 

Im Allgemeinen werde sich der Mensch mit dreißig endlich darüber klar, was er will. Das hatte ich gehört und wartete ab. Trotzdem überraschte mich heute mein Geburtstag. Aber ich verlor keine Zeit, sondern folgte dem Gebot des Augenblicks und der zeitgleichen Entdeckung, dass ich praktisch pleite und meine Tasche bis auf mickrige hundert ägyptische Pfund leer war.

Sie werden schön sein, die Dreißiger.

Dies gedacht, saß ich eine Stunde später in einem Minibus Richtung Kairo, im Kopf einen Plan, den ich, daran zweifelte ich nicht, in Gänze in die Tat umsetzen würde: Gleich nach meiner Ankunft in Downtown Kairo werde ich das erste Taxi besteigen, das mir unter die Augen kommt, und, zu Hause angekommen, dem Fahrer meine restliche Barschaft aushändigen. Sobald das Taxi verschwunden ist, werde ich, wie in alten Zeiten, auf die Mauer ums Haus klettern, in den Garten hinunterspringen und die Küchentür aufmachen, von der ich wusste, dass ich sie nicht abgeschlossen hatte. Ich werde ins Haus gehen, den Laptop aufklappen, nicht aber der zu erwartenden Verlockung nachgeben, Facebook zu öffnen, um festzustellen, was ich während des vergangenen Monats verpasst hatte. Vielmehr werde ich im Haus nach einer Kreditkarte suchen und damit den nächstmöglichen Flug nach Amerika buchen. Nach Kairo durfte ich nie mehr zurückkehren. Daran wollte ich mich jeden Tag erinnern.

Sie werden schön sein, die Dreißiger.

Ab sofort sind Träume unerwünscht, die mich ungebeten und unkontrolliert aufsuchen und mir zum Trotz werden, was ich will. Am ersten Tag meiner neuen Dekade, unterwegs im Minibus Richtung Kairo, unterzog ich meine Träume einem ersten Test – erfolgreich! Ich schlief ein und träumte im Einklang mit meinen Wünschen. Nun war das Einzige, wonach ich mich in Kairo immer sehnte, der Geschmack von Öl auf den Nuggets bei Kentucky Fried Chicken. Ich schloss die Augen und da stehe ich vor dem Restaurant und sage mir, das ist ein Traum. Obwohl ich Hadîr neben mir stehen sehe, was es wahrscheinlich macht, dass ich mich selbst in einem Albtraum sehe, gerate ich nicht in Panik. Im Gegenteil, ich bin erleichtert, weil all das ja morgen, nach meiner Ankunft in Amerika, zu Ende ist und nie mehr jemand von mir verlangen wird, etwas in die Tat umzusetzen, was mir im Traum erscheint.

Ich betrete mit Hadîr zusammen das Restaurant und bestelle dreißig Chicken Nuggets, der Duft von Frittieröl erfüllt mein Herz mit Freude. Hadîr will nichts essen, obwohl der Restaurantbesuch meiner Überzeugung nach ihre Idee war. Ebenso bin ich davon überzeugt, dass das, was ich da gierig verschlinge, in Wirklichkeit meine Erinnerung ist, wodurch sich erklärt, dass die Hühnerteile heißer sind als gewöhnlich; ebenfalls erklärt sich, warum sie wie Wasser durch meine Kehle gleiten, ohne dass ich einen Geschmack wahrnehme. Wofür ich jedoch keine Erklärung finde, ist der Wachsgeschmack, der sich beim zehnten Stück in meinem Mund einstellt, während ich gleichzeitig beobachte, wie Hadîr ein Feuerzeug und eine Zigarette aus ihrer Tasche zutage fördert. Ich fürchte schon, eine zwischen den Hühnerteilen versteckte Zündschnur verschluckt zu haben, und würde Hadîr nur allzu gern vom Gebrauch des Feuerzeugs abbringen, obwohl ich nicht glaube, dass sie uns ins KFC geführt hat, um mir beim Anzünden einer Zigarette so nahe zu kommen, dass mein Mund in Flammen aufgeht. Weil ich aber, sogar im Traum, eine Auseinandersetzung mit ihr fürchte, wähle ich einen Umweg und erinnere sie daran, dass Rauchen im Lokal verboten ist. Sie quetscht die Zigarette mit den Lippen zusammen und murmelt, noch bevor der Rauch ihren Mund verlassen hat, abschätzig:

„Keine Angst, Rami. Das ist nicht Liebe, das ist einfach Magensäure.“

Jetzt war kein Zweifel mehr möglich: Es handelte sich um einen Albtraum. Als ich nach meinem letzten Stück Huhn greife, ist ihre Zigarette zu Ende, und noch bevor ich mir das Nugget in den Mund schieben kann, zieht Hadîr es mir aus der Hand und rennt weg. Dazu lässt sie ein irres Lachen hören. Ich renne ihr hinterher. Die Gäste im KFC beginnen zu klatschen, ich kann aber nicht sagen, wem von uns beiden der Jubel gilt. Einer blockiert ihr mit seinem Stuhl den Weg, ein anderer stellt mir das Bein. Sie rennt hinaus auf die Straße und verschwindet. Vielleicht gibt es irgendwo eine Tür, die ich nicht sehe, weil ich noch immer derselben Überzeugung anhänge wie zu Beginn meines Traums: dass ich auf keinen Fall das Restaurant verlassen darf, ohne fertig gegessen zu haben. Ich stelle mich an, um ein weiteres Nugget zu bestellen und das stibitzte zu ersetzen. Aber noch bevor ich an der Reihe bin, macht mich die Lady hinter mir darauf aufmerksam, dass meine Barschaft unzureichend ist. Da bleibt mir nur der Gegenangriff. Ich versuche sie zu überreden, mir doch ein Stück von ihrem Teller zu überlassen, sozusagen als Geschenk zu meinem dreißigsten Geburtstag. Doch trotz ihrer offensichtlichen Empathie erinnert sie mich daran, dass das nun wirklich nichts Besonderes sei. Jeder, der heute ins KFC komme, tue das, um zu feiern.

Als der Minibus anhielt, schlug ich die Augen auf, verstört, weil mein Unterbewusstsein unermüdlich weiterwirkte und von Hadîr träumte, die mir die Erinnerung an mein letztes Jahr stahl. Was mich jedoch noch mehr verstörte: Ich hatte von etwas geträumt, für das kein Älterwerden je Abhilfe schaffen würde. Mein Geburtstag wird auf immer mit dem Neujahrstag zusammenfallen und es wird auf immer unerheblich sein, ob ich anwesend bin. Ein Fest gibt’s allemal.

An der Haltestelle war ich der Erste, der ausstieg, und der Letzte, der ging, weil ich innehielt, um die Taxifahrer zu betrachten, die auf Kunden warteten. Ich rief keinen von ihnen. Vielmehr holte ich meine verbliebene Barschaft aus der Tasche und betrachtete sie. Ich erinnerte mich an meine Dreißiger-Vorsätze. Dann stellte ich fest, dass meine Füße, sozusagen unabhängig von mir, sich Richtung Stadtmitte aufmachten, genauer gesagt zur nächstgelegenen KFC-Filiale. Ich leistete keinerlei Widerstand. Nicht nur, weil der Hunger schmerzhaft an meinem Magen nagte, sondern auch, weil ich wusste, dass immer alles schiefging, wenn ich mich den Wünschen meiner Füße widersetzte. Also fügte ich mich ihnen, aber mit dem festen Vorsatz, genügend Geld für ein Taxi nach Hause zurückzubehalten. Während ich so dahinwanderte, ermahnte ich mich, alles um mich herum genau zu betrachten, wie es sich für jemanden gehört, der sich von einer Stadt verabschiedet.

Das Problem war, dass es nichts gab, von dem ich mich hätte verabschieden können. Es war noch früh am Morgen. Die Straßen waren menschenleer. Der Lautsprecher einer Moschee rief zum Gebet. Es war also nur noch eine Frage der Zeit. Die Vorstellung, noch einige Minuten allein zu gehen, gefiel mir. Außer einigen kalten Windstößen, die Staub und Plastiktüten aufwirbelten, war nichts zu sehen. Das gefiel mir so gut, dass ich mir vorkam wie ein gekrönter König, der durch Downtown Kairo schreitet. Doch leider war ich nicht imstande, erhobenen Hauptes zu schreiten. Es gab da nämlich noch ein anderes Gefühl: die Angst vor streunenden Hunden, die sich, davon war ich überzeugt, unter diesem oder jenem Auto versteckt hielten. An diese Hunde erinnerte ich mich, sonst an nichts mehr von Downtown Kairo: weder daran, was mich hierhergebracht hatte, noch daran, was mich zu gehen drängte. Und trotzdem befürchtete ich, dass ich mich einmal zurücksehnen könnte. Auf dem Tahrir-Platz sah ich die Spuren des Neujahrsfestes: Plastikbecher und -teller, Zigarettenkippen und eine verlassene Tribüne. An der Ecke der Mohammed-Machmud-Straße erblickte ich ein KFC. Ich stellte zu meiner Beruhigung fest, dass es offen war, ging aber nicht hinein.

Kentucky Fried Chicken weiß Bescheid und die Mohammed-Machmud-Straße ist nicht sicher, wenn das KFC seine Tore geschlossen hat. Diese Kairoer Lebensweisheit, die ich mir während des ganzen Jahres immer wieder eingetrichtert hatte, fiel mir ein. Aber dann, was ist schon sicher. Also betrat ich die Straße vorsichtig und erinnerte mich daran, wie beängstigend sie war, wenn dort Action herrschte, und wie angenehm ein Spaziergang dort, wenn sie schlief. Es war wie ein verstohlener Blick auf einen alten Mann, der seine Jugend als Rüpel verbracht hatte. Zehn Schritte und dann sprang die Straße, ohne zu gähnen, aus ihrem Schlummer, voll dynamisch, wie ich sie beim letzten Mal verlassen hatte, damals, als das KFC geschlossen war. Hadîr war in der Zoohandlung, an der vorbeizugehen ich mich immer fürchtete. Wie viele Schritte habe ich damals gebraucht? Wie viele Schritte brauche ich heute, um an denselben Punkt zu gelangen? Damals und heute. Gerade mal einundzwanzig. Die Zahl frustrierte mich. Alles scheint großartiger, wenn es geschieht. Aber wer ist das da vor mir? Und was veranlasst ihn zu diesem wütenden Blick? Wieso nimmt seine Hand allein eine Fläche ein, die größer ist als die Bilder aller seiner Kameraden um ihn herum an der Wand? Unmöglich. Ich versuchte mir einzureden, einen Doppelgänger zu sehen – nur breitere Schultern besaß er und andere Kleider. Dann begannen die Hunde zu bellen. Ich verließ den Laden ohne einen Blick zurück.

Nach einigen Schritten sah ich ihn erneut vor mir. Es war, als stünde ich mitten auf der Straße vor einem Spiegel. Ich hatte das Gefühl, mein Körper verlasse mich und verteile sich vor mir in alle Richtungen. Nur meine Füße blieben mir erhalten. Ich fiel auf die Erde, stand wieder auf und trat zu diesem Fremden. Ich sah mich selbst an einer gelben Wand hängen. Darunter stand: „Wo ist Rami?“

Ich riss mich zusammen und lief vor meinem Doppelgänger weg ins Stadtzentrum, überzeugt, ihm zu entkommen. Doch jedes Mal, wenn ich in eine andere Straße flüchtete, wanderte er leicht und locker über die Wände und überraschte mich aufs Neue. Es war nutzlos, an Flucht zu denken. Ich nahm all meinen Mut zusammen und trat ihm gegenüber. Er schien jünger als ich. Wann hatte es auf meinem Gesicht eine solche Wut gegeben? Ich war ganz allein mit ihm. Niemand war da, mich zu retten, sollte er von der Wand aus nach mir greifen, um mich zu verschlingen. Aber mit jedem Schritt auf ihn zu erschien mir sein Gesicht sanfter und frischer. Ganz sicher sah er besser aus als ich. Ich berührte ihn, und da war er nicht mehr furchteinflößend. Im Gegenteil, ihn an der Wand berührend, spürte ich Vertrautheit und Ruhe. Er schien mich einzuladen, hier zu bleiben und mich um ihn zu kümmern. Ich setzte mich neben ihn, hoffend, jemand werde mich für verrückt erklären, und bezwang aus Rücksicht auf die Gefühle meines Freundes an der Wand meinen Wunsch zu rauchen. Schließlich kam ein junger Mann mit einem schwarzen Rucksack voller weißer Farbflecken vorbei. Sein Gang verriet, dass er gerade aufgestanden war, bereit, seinen Tag zu beginnen. Ich warf ihm einen Morgengruß zu, den er erwiderte, ohne stehenzubleiben. Auf seinem Gesicht lag ein unverbindliches Lächeln, wie Klebstoff, der meinen Rücken an der Wand festhielt.

 

* Der Text ist ein Ausschnitt aus dem Roman "Der Preis des Helden", auf Arabisch erschienen im Almharouseh Verlag (2019).

Datenschutzerklärung

WordPress Cookie Hinweis von Real Cookie Banner