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Das besetzte Haus

Nastaran Makaremi
Weiter Schreiben Mondial, Das besetzte Haus
© Forough Alaei, Photo of the old house, Fotografie (2021)

Eine kleine weiße Schneeflocke fiel auf Shahnaz‘ Lippen, die durch die Kälte blau angelaufen waren. Ihr Unterkiefer zitterte und alle paar Minuten jagte ihr ein Schauer durch den ganzen Körper. Die Schneeflocken hatten sich wie eine seidige Schicht über die ganze Stadt gelegt. Über die Müllberge an der Hauswand, die kahlen Bäume hinter dem Zaun und über die Autos, die vereinzelt in der Nähe des Geländes standen. Der dünne schwarze Regenmantel schützte Shahnaz nicht vor der Kälte, die hier herrschte. In ihrer Stadt waren Regenmäntel, Jacken und Kleidung aus dickeren Stoffen eher hübsche Modeaccessoires an frischen und frühlingshaften Tagen. Nie zuvor war ihr die Kälte so stechend und unmittelbar unter die Haut gekrochen.

Iraj versuchte Shahnaz in der Dunkelheit zu erkennen. Den gekrümmten Schatten, den sie auf die Betonwand warf, sah er nicht, sah ihr Zittern nicht, konnte es aber fühlen. Ähnlich einem leichten Erdbeben vielleicht, das man auch nur fühlt, oder wie MIGs, wenn sie einander dicht über die Dächer der Häuser hinweg den Himmel entlang jagen und das unheimliche Donnern die Scheiben und die Wände erzittern lässt. Er schleppte sich zu ihr hinüber und drückte ihren Arm. Er fand ihn ganz verloren irgendwo in dem weiten Ärmel des Regenmantels. Angst überkam ihn. Angesichts dessen, dass sie in kurzer Zeit so mager, ausgezehrt und knochig geworden war; angesichts dessen, dass eine Schicht ihrer Körperhülle einfach so verschwunden und nur die Haut zurückgeblieben war. Einer seiner Albträume fiel ihm ein. Er hatte Shahnaz inmitten einer Wüste verloren … hatte auch die Kinder verloren … er lief umher und konnte sie nicht sehen … die Koffer hatte er zurückgelassen … hatte auch das Auto, die staubigen Möbel und das blaue Kinderfahrrad in der Wüste zurückgelassen. Er hörte ihre kläglichen Schreie, ließ sich nieder und kämpfte sich durch den Sand, sicher, seine Frau und seine Kinder seien lebendig unter den Massen von Sand begraben. Durch den Druck in seinen Fingern, die sich fest um das zerknüllte Betttuch gekrallt hatten, war er aufgewacht. Er hatte Shahnaz neben sich liegen sehen. Ausgestreckt auf dem Bett, mit ihrer dunklen Haut und dem schwarzen Haar, das ihr wie ein Strom über die Schultern rann, die Augen ungeschminkt, das Gesicht ruhig. Eine kalte Ruhe war das gewesen, die Ruhe einer Kranken. So sah das Gesicht eines Menschen aus, der dem Tod gegenüberstand und sich ihm bereits ergeben hatte. Iraj hatte ihrem regelmäßigen Atem gelauscht und die Kinder betrachtet, die nebeneinander schliefen … dann war ihm nach Weinen zumute gewesen und nach einer Zigarette.

Er war aufgestanden, zum Fenster gegangen und hatte sich die Zigarette angezündet, während sein Kopf sich schon wieder mit den realen und lebendigen Albträumen gefüllt hatte. Im Wachen sah er noch immer die kopflose Gestalt Naeems, wie sie über das Gelände der Ölraffinerie, auf das die Raketen niederprasselten, hinter ihm herlief und ihn nicht erreichen konnte und nicht verstand, dass der Kopf weg war und dass es jetzt an der Zeit wäre, zu fallen und liegenzubleiben, und dass es nicht mehr notwendig war zu rennen.

Shahnaz wandte ihm ihr Gesicht in der Dunkelheit zu und klopfte mit ihrer Hand einige Schneeflocken von ihren Schultern. „Bist du sicher, dass das richtig ist?“, fragte sie wohl schon zum hundertsten Mal in die Dunkelheit hinein. Als hätte er darauf gewartet, brach es aus ihm heraus: „Alle haben es gemacht … Nader … du weißt schon, Nader Nawbakhti und seine Leute … hast du es nicht mitbekommen? Niemand hat sich darum geschert … und überhaupt, in dieser Lage – wie kannst du sagen, was richtig oder falsch ist? Bis wann sollen wir denn in den Baracken bleiben? Bis sie das Wasser abstellen?“ Er schnaufte. Sein Atem stieg in kleinen Wolkenschwaden auf. Er tastete die Hosen- und Jackentaschen nach einer weiteren Zigarette ab, zündete sie an und blies den Rauch durch die dicht herabfallenden kleinen weißen Schneeflocken hindurch. Shahnaz‘ Zähne schlugen immer noch aufeinander. „Ich habe Angst … wenn plötzlich jemand vor uns steht, was dann? Für was hält man uns denn dann? Doch wohl für Diebe oder Obdachlose … bedenk doch unseren Ruf …“ Die Zigarette im Mundwinkel fuhr Iraj sie an: „Unseren Ruf? Du machst dir ernsthaft jetzt noch Gedanken über unseren Ruf? Denk lieber an die Kinder … sollen sie in dem Drecksloch krank werden?“

Shahnaz presste die blauen Lippen aufeinander. Sie hatte Iraj von der Stelle an Sepidehs Arm bisher nichts erzählt. Ihr war zuerst gar nicht in den Sinn gekommen, dass es etwas Schlimmeres sein könnte, sie hatte die Stelle für eine gewöhnliche Verletzung gehalten, die bald wieder abheilen würde. Aber dann hatte Dr. Mohammad Zamani sich die Stelle angesehen und gesagt: „Eine Aleppobeule ist das, meine werte Frau – Parasiten. Da kann man nichts machen. Nicht kratzen. Die Stelle würde sich entzünden und die Wunde dadurch nur tiefer werden. Reinigen Sie den Arm mit Betadine und halten Sie ihn an der frischen Luft. Schnell abheilen wird das allerdings nicht.“ Shahnaz hatte ihre Hände fest in die Oberschenkel gekrallt. „Jetzt danken Sie Gott, dass die Stelle nicht im Gesicht ist und das Kind sein ganzes Leben damit herumlaufen muss. Der Arm … so häufig sieht man den ja nun nicht“, hatte der Arzt sie zu trösten versucht. Aus dem Kloß in ihrem Hals war eine feste Kugel geworden, die sich in Shahnaz‘ Kehle auf und nieder bewegte.

 

Die beiden horchten auf und neigten den Kopf. Jemand kam auf dem Gehweg in ihre Richtung gelaufen. Sie erkannten Peyman, der sich im Lauf die Oberarme vor Kälte rieb. Er trug nur ein dünnes Hemd. In seinen Haaren hatte sich der Schnee abgesetzt. Er musste bereits einige Stunden in dieser Kälte auf den Straßen unterwegs gewesen sein. Sicher war er den ganzen Weg hierher zu Fuß gelaufen. Aufregung glänzte in seinen Augen – und eine tiefe Müdigkeit. Er hob den Blick und starrte auf eine Stelle irgendwo oben in Block VI des Gebäudekomplexes. „Gehen wir, bevor jemand kommt“, sagte er mit zitternder Stimme. Shahnaz folgte Peymans Blicken das Gebäude hinauf. Iraj warf das Ende seiner Zigarette auf den Boden und trat es mit der Schuhspitze aus. Er zog seinen Mantel aus und legte ihn Peyman um die Schultern, dann ergriff er Shahnaz‘ Hand und zog sie mit sich: „Hab keine Angst. Komm, gehen wir!“ Er fühlte die zarten Knochen ihrer Hand zerbrechlich in seinen Pranken liegen. Shahnaz nahm sich zusammen und die drei liefen das Treppenhaus des sechsten Blocks hinauf. Der ganze Gebäudekomplex gehörte zu einem Unternehmen, das Flugzeuge herstellte und das die Amerikaner hier aufgebaut hatten. Die Wohnsiedlung war ein Teil davon. Jetzt waren die Amerikaner weg und hatten die Siedlung zurückgelassen. Strom und Wasser gab es jedoch noch. Das allein reichte aus, dass sie alle sich auf den Weg gemacht und hierher, in das „besetzte Haus“ gekommen waren. Binnen kurzer Zeit hatten die Wohnungen sich mit kriegszerrütteten Familien gefüllt.

Im Lager hatte man damals allen Kriegsflüchtlingen ein Zimmer mit je einem kleinen Gaskocher zugewiesen. Auf den Gängen gab es Toiletten mit einer Dusche. Eine für acht Familien. Die unterschiedlichsten Menschen, dicht an dicht. Ruhige, verhaltene, stille Menschen neben lauten, rücksichtslosen, gereizten. Was immer man ihnen anfangs gegeben hatte, jetzt versuchte man, es ihnen wieder wegzunehmen. An einem Tag mit Einschüchterungen, Schusswaffen und Geschrei, an anderen Tagen schalteten sie mal den Strom, mal das Wasser ab. Oder sie leerten die Senkgrube auf dem Gelände nicht mehr wöchentlich, so dass die Abwässer dort ständig Hochstand hatten und ein beißender Gestank die Luft erfüllte. Iraj brachte regelmäßig Wasserkanister aus der Stadt mit, die reichten dann für ein, zwei Tage. Shahnaz brachte die Kinder hin und wieder in ein öffentliches Bad. In dieser Kälte würden sie sicher bald eine Lungenentzündung bekommen. Vor allem Babak, der schwächlich war und ständig krank. Das Klima hier bekam ihm nicht. Sein Fieber zu senken war eine Tortur gewesen. Zuerst hatten sie es mit Acetaminophen und Diphenhydramin versucht, dann mussten sie ihn doch nach Shahrara ins Krankenhaus bringen, damit Doktor Zamani ihm Antibiotika und Dexamethason verschrieb.

Doch im besetzten Haus würden sie länger bleiben können. Zumindest so lange, bis Arbeit und Einkommen geregelt waren. „Sie schicken mich vielleicht nach Mahschahr oder sogar nach Charg… was weiß ich … auf eine der Inseln“, sagte Iraj. Aber nichts davon stand fest. Allen blieb nichts anderes übrig, als ratlos auszuharren. Peyman sagte: „Die Wasser- und Stromleitungen aller Häuserblöcke hier sind direkt mit denen der Flugzeugfabrik verbunden. Hier werden sie nichts abstellen. Um ihrer selbst willen werden sie das nicht.“

Im Lager hatten sie ein paar Möbel und allerlei kleinere Gegenstände. Der amerikanische Kühlschrank von General Electric hatte den Krieg überstanden, neben ihm das blaue Fahrrad und das Paar jadegrüner Teppichläufer, von denen einer an der Ecke angesengt war, die man aber noch nutzen konnte, um den Boden der Zimmer damit zu bedecken, und der Koffer, der rote Koffer, der jetzt, in diesen Tagen, eher einer Zauberkiste ähnelte, die Shahnaz und die Kinder auf eine Reise ins Wunderland mitnahm. Shahnaz staunte manchmal darüber, wie in so kurzer Zeit, innerhalb weniger Monate nur, ihre Vergangenheit so vollkommen in Vergessenheit geraten war. Wenn sie den Koffer öffnete, drängten sich die Kinder neben sie und betrachteten die Dinge, die darin lagen. Sie berauschten sich an den Gerüchen: Imperial Leather-Seife, Parfüm von Azzaro, Johnson‘s Baby-Shampoo … Dinge, von denen man nicht gedacht hätte, dass man sie einst in einem Koffer lagern und wie Beweisstücke einer verlorenen Zeit bestaunen würde. In der kleinen Kofferwelt war alles bunt, sauber und intakt geblieben.

 

Peyman stand vor einer der Wohneinheiten, in denen kein Licht brannte. Ein, zwei Mal musterte er das Schild. „Hier ist es“, sagte er. „Sicher?“ fragte Shahnaz beklommen und hauchte sich vergeblich in die Hände. Ihr Atem war kaum wärmer als die Luft um sie herum im zugigen Laubengang. „Ja. Ganz sicher“, sagte Peyman. „Wir sind vorher schon einmal hier gewesen.“ Er schielte zu Iraj hinüber, der sich beeilte zu bestätigen: „Ja, das ist es. Es steht leer … wir haben uns umgehört.“ Shahnaz sagte nichts. Peyman legte seine Hände an das Fenster und fing an zu schieben. Das Fenster zitterte auf seiner Schiene, dann bewegte es sich ächzend zur Seite. Iraj stützte sich mit beiden Händen auf den Fensterrahmen, zog sich nach oben und kletterte hinein. Peyman folgte ihm und streckte dann seine Hand aus, um Shahnaz ebenfalls hineinzuziehen. In der Küche roch es nach abgestandenem Essen. Nach Verfaultem und Verbranntem zugleich. Und nach fremden Menschen. „Es stinkt hier, oder?“, fragte Shahnaz. Peyman zog die Schultern hoch. Iraj stellte sich in den Türrahmen. Shahnaz drückte den Lichtschalter. Es wurde hell in der Küche. In der Spüle waren einige schmutzige Gläser und Tassen abgestellt, auf deren Böden irgendwelche Rückstände festgetrocknet waren. Auf der Anrichte ein Salzstreuer, zwei Teller mit gesprungenem Rand, ein kleiner zerbeulter Topf, ein Gasherd mit drei Flammen. In einer Ecke stand auch ein kleiner Kühlschrank, dessen Stecker man aus der Steckdose gezogen hatte. Peyman schaltete das Licht wieder aus. „Die ganze Einrichtung ist noch hier, wir hätten nicht herkommen sollen, Idioten!“, rief Shahnaz mit erstickter Stimme. „Das heißt nichts“, sagte Iraj, ohne sie anzusehen, „in allen diesen Häusern stehen noch Sachen rum … wir stellen sie einfach vor die Tür.“ Sein Tonfall war munter und unbeschwert. Shahnaz machte jäh einen Satz auf ihn zu und packte ihn mit einer Kraft, die angesichts ihrer zarten Finger unwahrscheinlich war, an den Schultern: „Was soll das heißen? Wir warten? Schauen mal? Was soll das heißen?!“ Peyman ging an den beiden vorbei ins Wohnzimmer, von dem aus man durch ein großes Fenster auf das Gelände draußen schauen konnte, und starrte in die weite Nacht, die hinter dem Fenster durch die Lampen im Innenhof etwas erleuchtet wurde. Iraj griff Shahnaz beim Arm und zog sie ins Wohnzimmer: „Schau es dir an! Hier ist genügend Platz für uns alle … sowohl für uns als auch für die Kinder … für Peyman und deine Eltern. Es gibt eine Schule hier in der Nähe … die Kinder wären nicht länger auf diesem Schrottplatz eingepfercht.“ Shahnaz wand sich aus seinem Griff. Ihre Stimme zitterte vor Wut. „Das hier ist das Zuhause anderer Menschen, gottverdammt! – Wo sollen die denn sein? Wenn sich jetzt einer von ihnen hier blicken lässt, was dann?!“ Peyman stand mit dem Rücken zum Fenster, das Gesicht von der Dunkelheit verborgen. Das Licht vom Innenhof zog einen leuchtenden Rahmen um seine Gestalt. „Also erstens ­– das weiß jeder – muss man diese Wohnungen gut verbarrikadieren, also, die Schlösser austauschen. Das ist Regel Nummer eins, wenn man ein Haus besetzen will. Zweitens: Da lange Zeit niemand hier gewesen ist … Iraj, das meinten doch auch die Nachbarn, nicht?“ – „Genau … hier hat sich wirklich lange nichts getan“, bestätigte Iraj, „das Pärchen nebenan hat gesagt, dass sie, seitdem sie hier leben, niemanden haben kommen oder gehen sehen. Und jetzt machst du dich irre wegen der Möbel!“

Shahnaz ignorierte die beiden, ging zu einem der anderen Zimmer und lugte hinein. Als sie das Licht einschaltete, erschien gegenüber ein Doppelbett. Ein Eisengestell mit zwei Kissen und einem zerknüllten Laken, darauf ein grobes Blumenmuster in Hell- und Dunkelblau. Ganz ähnlich den Betttüchern, die sie bei dem jüdischen Stoffhändler in ihrem Viertel gekauft und mit denen sie ihr eigenes Bett bezogen hatte, in ihrem Haus in ihrer Stadt. Links stand eine Kommode mit drei Schubläden, darüber ein großer Spiegel, der den Anschein machte, als habe man einen Gegenstand nach ihm geworfen, und dessen Splitter noch auf der Oberfläche der Kommode verteilt lagen, zusammen mit einigen Lippenstiften, einem leeren Parfümflakon und einer silbernen Haarbürste. Auf der anderen Seite des Zimmers ein Vorhang, der vor das kleine Fenster gezogen war, mit Blumenmotiven in Gold und einer Art trübem Braun. Shahnaz betrat das Zimmer, nahm die Bürste von der Kommode, hielt sie in ihren Händen und betrachte sie. Sie versuchte sich die Frau vorzustellen, der die Bürste gehörte, in der noch einzelne Haare zwischen den Borsten hingen. Sie musste langes, dickes, schwarzes Haar haben. Dann nahm sie die Lippenstifte einen nach dem anderen in die Hand, zog die Kappen ab und betrachtete sorgsam die verschiedenen Rosa- und Orangetöne in den kleinen Röhren. Den Finger, der schon versucht war, die oberste Schicht der Farben abzustreichen, zog sie wieder zurück und steckte die Kappen wieder auf. Iraj bückte sich und griff nach einer Figur, die auf dem Boden lag. Ein buckliger alter Mann mit einem Weinkelch in der Hand, dem der Kopf fehlte. Sie hatten bei sich zu Hause eine ähnliche Figur stehen gehabt, auf dem Fernsehschrank. Er kam zögernd näher und blieb Schulter an Schulter neben Shahnaz stehen, ehe er die Figur auf die Kommode stellte, neben den Kopf, der unter den Rahmen des Spiegels gerollt war. Dann streckte er seine Hand aus und öffnete eine der Schubladen. Als ein Häufchen zerknitterter Kleidung darin zum Vorschein kam, schob er sie schnell wieder zu und sah davon ab, die anderen zu öffnen. Als hätte er Angst davor, auf Kleidungsstücke zu stoßen, die einer fremden Frau oder einem fremden Mann gehörten, ja, vielleicht auf einen Schlafanzug zu stoßen, an dem man noch den Schweiß des letzten Geschlechtsverkehrs riechen konnte.

Shahnaz ging an Iraj, der sich mit beiden Händen auf der Kommode abgestützt hatte, vorbei und in das Zimmer auf der anderen Seite des Flurs. Der Fußboden war mit grünen Teppichen bedeckt. Ein leerer, offenstehender Koffer war in der Mitte des Zimmers zurückgelassen worden und an der Wand stapelten sich Zeitungen und Magazine. Shahnaz ließ sich neben dem Stapel auf die Knie nieder, zog ein Magazin nach dem anderen heraus und legte es zur Seite. Ziellos, ohne einen Satz darin zu lesen, nahm sie sie in die Hand, blätterte darin herum und betrachtete sie. Sie selbst hatte früher Zan-e ruz[1] gekauft. Iraj bevorzugte Bücher. Es war viel Zeit vergangen, seit sie beide das letzte Mal auch nur eine Seite aus einem Buch oder Magazin gelesen hatten. „Nicht schlecht hier, was?“ Sie drehte den Kopf zum Türrahmen, als sie Peymans Stimme hinter sich hörte. „Klar, es muss noch ein bisschen aufgeräumt werden. Aber wenn wir erst den ganzen Krimskrams rausgeschmissen und einmal durchgewischt haben, wird es richtig schön sein.“ „Was kann ihnen nur widerfahren sein“, murmelte Shahnaz. Peyman stockte mitten im Satz: „Wem?“ – „Den Menschen hier, den Menschen, die alles hier zurückgelassen haben …“, fuhr Shahnaz fort. Peyman zuckte mit den Achseln: „Woher soll ich das wissen? Was geht uns das an?“ Shahnaz sah Peyman direkt ins Gesicht. „Sie hatten nicht einmal Zeit, ihre Kleidung mitzunehmen.“ Peyman schwieg. Er löste seine Hand vom Türrahmen und suchte Iraj, um sich bei ihm zu beklagen. Iraj hatte das Licht in dem Zimmer wieder ausgeschaltet. Er saß auf der Bettkante und starrte die Figur an, den alten Mann mit dem abgebrochenen Kopf. „Kannst du mir sagen, was mit deiner Frau nicht stimmt? Stellt sie sich jetzt wieder quer, oder was?“, stellte Peyman ihn zur Rede. Iraj hob in der Dunkelheit den Kopf: „Erinnerst du dich daran? Wir hatten auch so eine.“ – „Sag mal, habt ihr beide euch den Kopf angeschlagen, oder was? Wie lange sollen wir denn noch so herumirren?“, zischte Peyman aufgebracht.

Shahnaz hörte, wie die beiden flüsterten, einander anraunten. Sie hatte keine Lust, zu ihnen zu gehen. Sie fühlte sich schlecht an diesem Ort, auf den sie kein Anrecht hatte. Sie könnte jetzt sofort aufstehen und in das Lager gehen, könnte die Kinder von den Eltern holen und sie hier in ein eigenes Zimmer bringen, könnte das Haus von innen verriegeln und niemandem sonst mehr gestatten, es zu betreten. Aber dann stellte sie sich vor, wie sie vor ihrer eigenen Wohnungstür stehen würde und jemand hätte die Schlösser ausgetauscht und wie die Kinder am Ende wären und alles ganz anders wäre, als es einmal gewesen war. Sie dachte an ihr Haus, in ihrer Stadt. An die Aufmärsche fremder Soldaten in der Stadt, in der sie geboren und zur Schule gegangen war, in der sie geheiratet hatte und schwanger wurde und in der sie ihre Kinder zur Welt gebracht hatte. Sie erinnerte sich, wie sie dort durch die Straßen und Basare geschlendert und oft verschwitzt nach Hause gekommen war und sich dann ein Glas Vimto-Limonade einschenkt hatte. Sie vermisste es, ein Zuhause zu haben, alles in ihr drängte nach einem Ort, den man Zuhause nennen konnte, und diese Sehnsucht lag wie ein schwerer Stein in ihrer Brust. Sie lockerte ihr Kopftuch und ließ sich auf den grünen Teppich sinken neben den Zeitungen, die ihr wie aus einer anderen Welt erschienen, in der man eine andere Sprache sprach. Sie kauerte sich zusammen, wie ein Embryo im Uterus, und bettete ihren Kopf auf ihre Hände. Eine Träne rollte ihren Nasenflügel entlang zu ihrem Mund hinunter. Sie konnte sie an ihrer Zungenspitze schmecken.

Der Fußboden in diesem Haus war kalt. Kälter noch als die Luft draußen, die wie mit Nadeln in ihre Körper stach. Sie hörte, wie Iraj sich ihr näherte, aber sie rührte sich nicht. Iraj setzte sich neben sie auf den Boden und strich ihr durch das Haar, das sich aus dem Kopftuch gelöst hatte. „Schon gut“, sagte er, „weine nicht … wir finden noch einen anderen Ort … wir gehen zu der Stiftung für Kriegsflüchtlinge oder zu der Ölgesellschaft hier. Wir bringen sie schon dazu, uns ein richtiges Haus zu geben … können sie uns denn so hängen lassen? Können sie uns denn so einfach wieder fortjagen? Steh auf Shahnaz … mach schon, steh auf.“ – „Was, wenn sie tot sind?“, murmelte Shahnaz. Iraj sah sie verwirrt an, suchte ihren Blick hinter den halbgeschlossenen Augen, die auf die Wand gegenüber gerichtet waren, von der die Farbe abblätterte. – „Was?“ – „Was, wenn sie tot sind? Wenn sie einen Unfall hatten oder im Krankenhaus sind … Oder wenn sie eines Tages zurückkommen, um nach ihren Sachen zu sehen … dann haben sie die falschen Schlüssel dabei, den falschen Block erwischt … sie finden das Haus nicht wieder … und ihre Sachen finden sie draußen im Innenhof … neben dem Müll … oder sie finden sie überhaupt nicht … sie wissen überhaupt nicht, was los ist.“ Jetzt weinte sie nicht mehr. Aber ihre Stimme war heiser und rau, von den Spuren, die der Kloß in ihrem Hals verursacht hatte, der vielleicht seine Krallen in ihre Kehle geschlagen hatte, als sie ihn hinunterzwang. Peyman, dessen Gestalt den Türrahmen ganz ausfüllte, zog Irajs Mantel aus und warf ihn in dessen Richtung: „Kommt, steht auf … ihr wolltet doch, dass wir gehen, oder?“, warf er ihnen vorwurfsvoll entgegen. „Mir ist eiskalt. Ich muss sagen, auf euch zähl‘ ich echt nicht mehr.“ Er schien diese Worte mit Mühe zwischen seinen zusammengebissenen Zähnen hindurchzupressen. Shahnaz schwieg, zusammengekauert auf dem kalten Boden, der ihren Körper taub machte, und starrte weiterhin auf die Wand gegenüber, die sich bis in den Schein des obszönen Deckenlichts streckte, das sich von dort oben ausbreitete und sie wie ein unsichtbarer Zeigefinger auf sämtliche Fett- und Farbflecke aufmerksam machte, die Hände hier hinterlassen hatten, und auf alle Stellen, an denen die Farbschichten sich von den Wänden pellten. Iraj saß noch immer neben ihr. Auf dem grünen Teppich, an dem eine angesengte Ecke ins Auge fiel, auf der wohl einmal ein Bügeleisen zu lange gestanden hatte. Er betrachtete ihr Gesicht, schaute nach ihren Augen, die nirgendwo mehr hinzusehen schienen.

 

 

[1] Dt. „Die Frau von Heute“

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