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Kristine Bilkau über Omar Al-Jaffal

Berlin, Bagdad, Düren

Es ist Ende Mai, früh am Abend, die Sonne brennt noch so kräftig wie am Nachmittag, 33 Grad zeigt die Wetter-App an. Omar Al-Jaffal schaut auf den blau leuchtenden Wannsee, dann in die blendende Sonne. „This is not Berlin. This is Bagdad!“, sagt er, den Blick weiter zum Himmel gerichtet.

Der wärmste Mai seit 1889, habe ich in einer Zeitung gelesen. 1889, das Jahr, in dem die Friedensforscherin und Schriftstellerin Bertha von Suttner, Die Waffen nieder! veröffentlichte. Der wärmste Mai seit Gründung der Bundesrepublik, habe ich in einer anderen Zeitung gelesen; 1949, dem Jahr als Heinrich Böll sein erstes Buch veröffentlichte, die Kriegserzählung Der Zug war pünktlich.

Heute, am Wannsee, geht es um das Weiterschreiben, nach dem Krieg, während des Krieges, nach der Flucht, aus dem Exil. Es geht um die Hoffnung und das Wort. Deshalb sind wir hier, Omar Al-Jaffal und ich, er wird einen Text über den Alltag der Angst in Bagdad auf Arabisch vorlesen, ich die deutsche Übersetzung. Und es wird um Heinrich Böll gehen, mit dem uns beide einiges verbindet.

Als Stipendiat hat Omar Al-Jaffal das vergangene Jahr in Langenbroich, im Haus von Heinrich Böll gelebt und ist bis heute in der Nähe, in Düren, geblieben. Von dort hat er einen Brief an Heinrich Böll geschrieben. Es ist ein langer Brief, der mit der Kindheit von Omar Al-Jaffal beginnt. Eine Kindheit, die während der Neunziger Jahre zu früh endete, weil die harten Wirtschaftssanktionen gegen den Irak die Familie verarmen und hungern ließen, und sie dazu zwangen, ihren zwölfjährigen Sohn aus der Schule zu nehmen, damit er mit Gelegenheitsarbeiten Geld hinzuverdiente. Ein Brief, in dem Omar Al-Jaffal über Nachkriegsgesellschaften nachdenkt, über das Leid der Menschen und das Versagen der Politik. Ein Brief, der bis ins Heute führt, von der Aktualität von Bölls Worten erzählt, und von einer Gegenwart, die geformt ist von ökonomischer Ungerechtigkeit, von politischer Trägheit, und von wachsenden, schwer zu greifenden Ängsten. Ängste, auf die es zu viele reflexhafte, schlicht gedachte Reaktionen, aber zu wenig hilfreiche Antworten gibt. Bitter im Ton und doch voller Sehnsucht nach einer besseren Zukunft schreibt Omar Al-Jaffal an seinen imaginierten Gastgeber.

Ich frage mich, was der alte Dichter Omar Al-Jaffal auf seinen Brief antworten würde, wenn er könnte. Eine schöne Vorstellung wäre das; der heutige Leseabend im Literarischen Colloquium Berlin, auf der Bühne Omar Al-Jaffal, und durch die Tür käme Heinrich Böll, er würde den erstaunten Menschen im Publikum zunicken, sich ohne viel Aufhebens einen Platz auf dem Podium suchen, wir würden uns über Gesellschaften nach dem Krieg unterhalten und über die Gegenwart, und wir würden Böll um Antworten auf unsere Fragen bitten.

Doch Böll hat alle Antworten ja längst gegeben. Omar Al-Jaffars Vater kennt sie. Er lernte Ende der Siebziger Jahre die deutsche Sprache und übersetzte Böll ins Arabische. Omar Al-Jaffal findet seinen von Krieg, Korruption und Armut beschädigten Vater in den Romanfiguren von Heinrich Böll wieder. Auch meine Mutter, Jahrgang 1940, kannte diese Antworten, besser als ich, genauer als ich. Als junge Frau, fremdelnd mit der Adenauer-Politik und der schweigenden Verwandtschaft, bedrückt von der deutschen Geschichte, deren Aufarbeitung behäbig ignoriert wurde im Wirtschaftswunderland. Meine Mutter füllte ihre Bücherregale mit Literatur von Anna Seghers, Siegfried Lenz – und Heinrich Böll, durch dessen Stimme sie Rückhalt und Orientierung fand in den Jahren vor 1968, als sie, wie so viele ihres Alters, voller Unbehagen, Zweifel und Aufbruch auf der Suche nach Sprache und Ausdruck für dieses Lebensgefühl war.

Wir tragen keine Schuld, aber wir tragen Verantwortung. Mit diesem Satz bin ich aufgewachsen. Ich war Schülerin, vierzehn, fünfzehn Jahre alt, und meine Mutter gab mir ihre Bücher zu lesen. Ansichten eines Clowns, eine abgegriffene Originalausgabe von 1963. Auf einer der ersten Seiten, leicht zu übersehen, mit Bleistift geschrieben: Heinrich Böll; eine Schrift ohne Schnörkel, zurückgenommen, bescheiden. Ich sehe die junge Frau vor mir, wie sie dem Autor nach der Lesung ihr aufgeschlagenes Buch überreicht und er es für sie signiert. Inzwischen ist diese Ausgabe aus dem Nachlass meiner Mutter in mein Regal gewandert.

„Wie humanistisch eine Gesellschaft agiert und wie sehr sie diese Werte bewahrt, ergibt sich aus den Büchern, die ihre Menschen lesen, sagen wir im Arabischen“, so Omar Al-Jaffal. Die Hoffnung und das Wort. Aus diesem Gespann entspringt ein eng verwobenes Netz, dieses Netz verbindet Berlin mit Bagdad mit Düren. Es verbindet die alten Böll-Ausgaben, ob auf Deutsch oder Arabisch erschienen, die in mancher Händen lagen und Rückhalt gaben, mit einigen der Bücher, die gerade erst geschrieben werden. In Düren arbeitet Omar Al-Jaffal an seinem ersten Roman. Es soll um die vermeintlichen Kleinigkeiten im Leben durchschnittlicher Leute gehen, anhand derer sich die großen gesellschaftlichen Zusammenhänge ablesen lassen, präzise Alltagsbeobachtungen, durch die sich wirtschaftliche und politische Systeme entlarven und kritisieren lassen. Das ist es, was er bei Böll gefunden hat, das ist die Form des Erzählens, an die er glaubt; noch etwas, das uns verbindet.

Langsam gehen wir den Weg vom See hoch zur Villa, wo wir gleich auf der Bühne nebeneinander sitzen und vorlesen werden. „Menschen wie ich haben keine großen Träume, wir haben gesehen, wie große Träume sich in Nichts auflösen“, sagt Omar Al-Jaffal, „aber ich habe unerschöpflich viel Hoffnung, darauf, dass Kriege beendet werden, Armut und Ausbeutung bekämpft werden können, und Hoffnung darauf, dass sich in der Politik moralische Werte durchsetzen, zumindest in dem Maße, dass die Menschen in allen Ländern ein gutes Leben führen können. Ja, ich gebe zu, angesichts der grausamen und verdorbenen Verhältnisse wirken diese Gedanken kindisch, aber haben wir eine andere Wahl?“

Aus den offenen Fenstern des Saals hören wir Oud-Klänge und den Rhythmus der Percussion, Soundcheck für das Konzert der syrischen Band Matar, das nach der Lesung stattfinden wird. Dieser Abend ist ein kleiner Knotenpunkt, in dem Netz, gesponnen aus der Hoffnung und dem Wort; dieser Abend, an dem die Sonne über dem Wannsee Omar Al-Jaffal einen Moment lang Bagdad spüren ließ.

 

 

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