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Im Schatten der Pandemie wachsen die Monster

 

Ein Gespräch zwischen Kristine Bilkau und Omar Al-Jaffal, geführt zwischen September 2020 und Januar 2021

Kristine Bilkau: Lieber Omar, du hast einen großen Teil des vergangenen Jahres als Stipendiat im Schloss Solitude verbracht, um dort zu schreiben. Solitude – Einsamkeit, Abgeschiedenheit –, das ist für uns Autor*innen bisher immer ein wohlklingendes, sehr willkommenes Wort gewesen. Doch in einem Jahr, in dem wir uns mehr zurückziehen mussten, als wir wollten – wie hast du diese Zeit empfunden?

Omar Al-Jaffal: Die Monate im Schloss Solitude waren trotz allem eine gute Zeit für mich, es war gut, mit verschiedenen Künstlern aus verschiedenen Ländern zusammenzuleben, verschiedene Sprachen zu hören. Grundsätzlich ist es so, dass mir Rückzug nicht mehr schwerfällt. Durch meine ersten Jahre in Deutschland, wo ich anfangs nur wenige Menschen kannte, habe ich gelernt, tagelang zu Hause zu sitzen, ohne mich viel zu bewegen. Und ich gebe ehrlich zu: Ich habe das Leben des Frosches lieben gelernt, der in einem Sumpf sitzt und sich kaum rührt!

Omar zu seinem Arbeitszimmer: „Hier sitze ich mehr als 6 Stunden täglich, habe aber auch ein Sofa zum Liegen und Lesen. Der Schreibplatz sollte immer ein Sofa haben!“ © privat

Kristine Bilkau: Wie hat die Pandemie deinen Blick auf den Alltag verändert? Hat sie sich auf dein Schreiben ausgewirkt? Mich, zum Beispiel, hat sie eine Zeit lang regelrecht blockiert, die immer neuen Informationen, Zahlen, Entwicklungen haben mich in Beschlag genommen.

Omar Al-Jaffal: Ich glaube, die Pandemie hat mein Schreiben nicht eindeutig geprägt, sondern sie hat sich eingeschlichen. Mir ist aufgefallen, dass ich angefangen habe, die Welt unter dem Aspekt des Abstandhaltens wahrzunehmen. Wie sehr mich der Aspekt „Abstand“ geprägt hat, merke ich schon in kleinen Situationen, wenn ich zum Beispiel Filme gucke. Wenn in einer Szene Leute eng beieinander stehen, erlebe ich immer wieder diesen kurzen schreckhaften Moment: Warum tragen die Leute hier keine Masken? Wahnsinn! „Pandemie“, dabei ist der Klang dieses Wortes, seine Melodie, so schön. Der Alltag mit Corona ist verwirrend, und ich versuche immer noch zu verstehen, was gerade passiert. Und wie sich unsere Gesellschaft nach der Pandemie verändern wird. Was ich aber bisher beobachtet habe, ist, dass sich der Kapitalismus am schnellsten an neue Bedingungen anpassen kann. Nicht wahr?

Kristine Bilkau: Das lässt sich deutlich beobachten, und darin liegt natürlich eine Härte, die einen frösteln lässt. Ich wäre dafür, dass alle, die überproportional von der Pandemie profitiert haben und noch profitieren, in einen Hilfsfonds einzahlen müssten. Im Mikrokosmos aber hat mich der Erfindungsreichtum von kleinen Läden, Restaurants und einzelnen Menschen beeindruckt und mir auch immer wieder Zuversicht gegeben. Wie gehen deine Freunde und deine Familie im Irak mit der Situation um?

Omar Al-Jaffal: Für die Menschen im Irak ist körperliche Nähe sehr wichtig, um Gefühle zu zeigen. Als ich noch in Bagdad lebte, waren wir Arbeitskollegen mehr als zehn Stunden am Tag und vierundzwanzig Tage im Monat zusammen, wir haben einander jeden Morgen umarmt und geküsst. Du kannst dir vorstellen, wie schwierig es ist, ein Leben zu führen, in dem man nicht in der Nähe von Freunden oder Bekannten sein kann. Als die Pandemie den Irak erreichte, war dies das Erste, woran ich dachte. Darüber habe ich dann auch einen Text geschrieben. Die Situation im Irak ist schwierig, das Land hat viele Menschen durch das Virus verloren, auch viele KünsterInnen und SportlerInnen, die den Menschen eine Stimme und Öffentlichkeit gegeben haben. Einige meiner Freunde sind an Corona erkrankt. Die Infektionszahlen sind immer noch hoch. Aber es ist ja auch so: Wie können Menschen von der Gefahr eines Virus überzeugt werden, wenn sie Kriege durchlebt haben, in denen Hunderttausende von ihnen getötet wurden? Viele von ihnen haben Zeiten mitgemacht, in denen an einem einzigen Tag mehr als zehn Autobomben explodiert sind. Ihren Alltag haben sie trotzdem aufrechterhalten. Und jetzt sollen sie begreifen, dass dieses Virus, das man mit bloßem Auge nicht sehen kann, tödlich ist! Doch wenn der Tod in einem Land so häufig vorkommt, wird er kaum mehr jemanden erschrecken. Daran habe ich viel denken müssen in letzter Zeit.

Kristine Bilkau zu ihrem Arbeitszimmer: „Ich kann mich schwer von Sachen trennen. Ich neige zu Zettelsammlungen und Bücherstapeln, und irgendwann vergesse ich, was ich da alles gehortet habe." © privat

Kristine Bilkau: In Deutschland dagegen habe ich manchmal den Eindruck, dass die öffentliche Diskussion den schmerzhaften Themen zu sehr aus dem Weg geht. Im Dezember wurde viel über Weihnachtsmärkte und Glühweinstände – ja oder nein? – diskutiert. Dagegen herrscht eine fast gespenstische Stille, wenn es um die Tatsache geht, dass über längere Zeit jeden Tag fast tausend Tote zu betrauern waren. Ähnlich still ist es, wenn es um das Thema häusliche Gewalt geht. Wir wissen, dass die Zahl der Fälle steigt, dass vor allem Kinder und Frauen sehr unter dem Rückzug, den wir alle leben müssen, leiden. Nicht nur das Virus scheint unsichtbar, auch das Leiden ist zu wenig sichtbar, begreifbar für viele. Ich glaube, wir werden noch sehr lange brauchen, um das, was da gerade passiert, zu verarbeiten.

Omar Al-Jaffal: Ich habe auch viel über häusliche Gewalt nachgedacht, an Kinder und Frauen gedacht. Im Schatten der Pandemie wachsen die Monster. Wir müssen auch sonst mit ihnen leben. Doch jetzt werden sie größer und heftiger. Ich glaube, wir werden uns viel Zeit nehmen müssen, um zu verstehen, was passiert ist, und um damit umzugehen. An mir stelle ich fest, dass ich zwischendurch in einem tiefen Pessimismus versinke und mich frage: Wird es vielleicht sogar eine Zeit geben, in der wir uns mit Sehnsucht an diese Pandemie erinnern werden? Ich hoffe nicht.

Kristine Bilkau: Das ist ein düsterer Gedanke.

Omar Al-Jaffal: Im Dezember bin ich dreiunddreißig Jahre alt geworden und ich habe Revue passieren lassen, was bisher passiert ist. Und ich dachte auch über meinen anhaltenden Pessimismus nach, ich versuchte ihn vor mir zu rechtfertigen. Dabei wurde mir klar: Im Alltag bin ich überhaupt nicht so schwarzmalerisch, da schicke ich meiner Familie, meinen Freunden und Bekannten beruhigende Worte nach Bagdad, und ich konnte mir selbst auch immer Mut zusprechen, wenn ich vor etwas Angst hatte. Es ist vor allem, wenn ich schreibe, da werde ich pessimistisch oder lass uns sagen: traurig oder mutlos. Vielleicht, weil ich dann noch tiefer über alles nachdenke, über politische Systeme, die zusammenbrechen, über wirtschaftliche Systeme, die immer ungezügelter werden und die Ungleichheit fördern, anstatt sie zu besiegen. Vielleicht auch, weil ich beim Schreiben freier bin, auch wenn es um dunkle Empfindungen geht.

Kristine Bilkau: Schloss Solitude hast du inzwischen verlassen und nach langer Wohnungssuche bist du mit deiner Freundin nach Berlin gezogen.

Omar Al-Jaffal: Ja, wir leben jetzt in einem sehr ruhigen, sehr beschaulichen Viertel. Am Anfang war ich tatsächlich ein bisschen geschockt, das war ungewohnt für mich. Aber jetzt läuft es gut, ich fange an, unsere Straße richtig zu lieben. Nur, es ist so kalt! Ich gehe zurzeit nicht viel raus. Ich warte geduldig auf den Sommer, um dann jeden Tag ein paar Stunden durch Berlin zu laufen und die Stadt weiter zu entdecken.

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