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Die Unterschiede, überall. Das Gemeinsame, überall

Von Ulla Lenze

November 2021. Ich sitze auf der windumtosten Insel San Servolo in Venedig. Das weiße Licht glitzert auf dem seidigen Wasser der Lagune, gegenüber zeichnet sich die Silhouette des Lido ab, ich drücke das kalte Handy ans Ohr.

Dass ich erkältet bin, hört Rabab Haidar sofort. Wenn wir uns nicht sehen, dann texten oder telefonieren wir und erzählen einander, was in unseren Leben gerade passiert; wir sprechen über das Weltgeschehen, unsere Beziehungen, über das Schreiben. In jedem dieser Gespräche sagt Rabab Haidar irgendetwas, das mich unerwartet trifft, das ein Echo in mir erzeugt, und es kann dabei um Großes gehen oder auch um ganz Alltägliches. Diesmal sprechen wir über das, was wir in den letzten Tagen geschrieben haben; bei Rabab hat es – ungenau gesagt – mit etwas zu tun, was sich an vielen Orten zwischen Indien und Westeuropa abspielt (die wir beide besucht haben), und dem, worauf sie in Deutschland stößt, wo sie nun seit drei Jahren lebt. Es geht um die Unterschiede, überall, und das Gemeinsame, überall, und nun sagt sie: „Sind es nicht eben diese Unterschiede zwischen uns, weshalb die Gespräche so interessant sind?“

Ich glaube, in die Sichtbarkeit traten die Unterschiede, als wir ihnen einmal hartnäckig nachgingen, uns tagelang Fragen und Antworten zuschossen, unsere Fragen präzisierten, unsere Antworten justierten, weil wir aufrichtig verstehen wollten, warum wir Schönheit so unterschiedlich erlebten, in welchem Grad unsere Empfindungen kulturell geprägt waren, und ob wir, durchs Erklären und Analysieren, nicht für das eigene Empfinden die andere ein bisschen begeistern konnten. Ich warb für eher ruhiges, minimalistisches Design (meine Begründung: weil in mir selbst schon genug los ist), Rabab Haidar hingegen für die aus der Sufiphilosophie entwickelten labyrinthischen Formen und Arabesken (um das, was in ihr war, zu begleiten und zu verstärken). Die jeweiligen Prämissen und Assoziationen offenlegend, kamen wir trotzdem immer wieder an eine Grenze, an der die andere stehenblieb, aber doch etwas gelernt hatte.

Ihre Texte, die sie uns seit drei Jahren schenkt in Beiträgen für Zeit online, Vogue und Weiter Schreiben, sind von ähnlicher Beweglichkeit, Unnachgiebigkeit und Offenheit, weil, glaube ich, Rabab Haidar in einem inneren Dialog steht zwischen hier und dort, dem verlassenen Land und dem neuen. Und so wendet sie sich weit auseinander liegenden Themen zu und verbindet sie, bettet sie in größere Kontexte ein, sei es ein Kriegsbericht oder eine mythisch-poetische Erzählung über weibliche Erfahrung in männlich geprägten Strukturen, sei es ein humorvoll intelligenter Kommentar zu aktuellen Debatten, Verschwörungstheorien, Schönheitsidealen oder zu Angela Merkels Augenrollen. Ihre Texte fließen von Reportage zu Essay und Fiktion, die Kategorien gehen mühelos ineinander über. „Wir stolpern über die Vergangenheit und übereinander“, schreibt sie in einem ihrer Texte. Und wir dürfen gespannt sein, wohin ihre nächsten literarischen Schritte sie tragen werden.

Das Wasser der Lagune umschließt die Insel. Dass ich nach Hause fahre, bald, habe ich in diesem Telefongespräch mit Rabab Haidar entschieden.

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