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Die unerträgliche Leichtigkeit der Gerechtigkeit

von Ahmed Awny

Aus dem Arabischen von Kerstin Wilsch

1

Dieses Mal hatte ich tatsächlich darüber nachgedacht, meine Beziehung mit Helena zu beenden. Es war nicht wie beim letzten Mal, als sie an meinem Geburtstag Hummus für mich zubereitete, obwohl ich ihr schon zigmal gesagt hatte, dass ich Darmprobleme habe und mein Magen nicht verträgt, was meine Landsleute mögen. Dieses Mal war die Sache ernster, ungefähr wie damals, als sie erklärte, sie wolle ein Kind mit mir haben. Ich redete mich damit heraus, dass ich kein Kind wolle, das dann in dieser Welt leiden würde, und formulierte eine Bedingung, die mir unerfüllbar schien:

„Wir werden Kinder haben, wenn überall Gerechtigkeit herrscht!“

Eigentlich waren wir gerade dabei, miteinander zu schlafen, und nachdem sich meine Sorgen in Bewunderung für sie und ihren unverwüstlichen Optimismus verwandelt hatten, machten wir weiter. Sie zog mich an sich und sagte:

„Das wird schon bald sein!“

Doch als ich mich zu der Demonstration der von Gerechtigkeit Träumenden verspätete und sie mir in einer Textnachricht mitteilte, ich brauche nicht mehr zu kommen, weil bereits Gerechtigkeit herrsche, ging sie wirklich zu weit. Helena vergaß, auf welcher Seite sich jeder von uns befand. Ich gehörte zu den Unterdrückten und sie zu den Verbündeten und als eine solche hatte sie kein Recht, mir Vorwürfe zu machen.

Ich blieb stehen. Da setzte auf der Straße eine plötzliche Bewegung ein. Fröhlich lächelnde Menschen kamen mir von der Demonstration entgegen. Ich wusste nicht, warum mich die glücklichen Gesichter gerade jetzt provozierten, hatte ich doch Helena schon oft daran gehindert, die lächelnden Menschen um uns herum anzuschreien. Seit ich sie kannte, hätte sie am liebsten allen zugerufen:

„Wie könnt ihr nur angesichts all dieser Ungerechtigkeiten lachen?“

Doch wenn ich dann lachte, beruhigte sich Helena, als gäbe mein Lachen allen anderen das Recht, ebenfalls zu lachen. Gab es etwas Schöneres als das? Langsam setzte ich meinen Weg zur Demonstration fort oder man könnte auch sagen: zu Helena.

2

Ich wundere mich über Autoren, die immer pünktlich sind, selbst wenn sie zu einem Termin unterwegs sind, um Gerechtigkeit zu erreichen. Ein Schriftsteller sollte zu spät kommen, weil er sehr wahrscheinlich länger bleiben wird als alle anderen. Es stimmt schon, dass Schriftsteller Dramen produzieren und die Welt in Geschichten verpacken, aber zugleich widersetzen sie sich auch unserer Neigung, nur dramatischen Dingen Aufmerksamkeit zu schenken. Wie viele Kinder verhungern jeden Tag? Sicher um ein Vielfaches mehr als jene, die in Kriegen getötet werden. Und warum setzen wir uns dann nicht für die verhungernden Kinder ein? Ganz einfach, weil wir das als ein alltägliches Ereignis wahrnehmen, das zu normal, zu undramatisch ist, um als eine „Geschichte“ zu gelten, und weil wir keinem anderen die Schuld dafür geben können als dem globalen System, das wir nicht in ein Bild oder ein Video oder einen Roman fassen können.

Letzten Endes sind wir alle Gefangene unseres Interesses für dramatische Ereignisse. Da bricht irgendwo ein Krieg aus und wir erheben uns dagegen und erklären ihn zu unserer ureigenen Sache. Dabei ist uns nicht bewusst, dass wir diesen Krieg in ein paar Wochen oder Monaten hinter uns lassen werden, ganz gleich, ob er beendet wurde oder weiter andauert, denn inzwischen hat sich irgendwo anders ein neues Unglück ereignet, ein Erdbeben, das unsere Aufmerksamkeit erfordert, eine Revolution in irgendeinem Land, die wir unterstützen werden, auch wenn sie in der Regel niedergeschlagen werden wird, und so geht es immer weiter. Wahrscheinlich rückt dann der Krieg, den wir hinter uns gelassen haben, wieder in den Mittelpunkt unseres Interesses, bis ein weiteres dramatisches Ereignis unsere Aufmerksamkeit auf sich zieht.

Doch die Schriftsteller, die zu spät kommen, müssen länger bleiben, sie müssen die ruhigen, weniger dramatischen Momente festhalten, die noch nicht zu Geschichten geworden sind, auf die wir unsere Aufmerksamkeit richten. Vielleicht ist dies das Einzige, was Schreiben tun kann: das Ruhige mit dem Dramatischen zu verbinden, das Kontinuum zwischen Vergangenheit und Zukunft mit den Dingen zu füllen, die außerhalb der großen Ereignisse stattfinden.

3

Natürlich machte sich meine Ex-Freundin Laila über mich lustig, als ich ihr das sagte, und erinnerte mich tagelang immer wieder daran, was ein Schriftsteller alles tun sollte – den Müll zu spät wegbringen, den Abwasch stehenlassen, die E-Mail an die Rechtsanwältin für unser Asylverfahren zu spät absenden und sich viel Zeit damit lassen, Deutsch zu lernen, das ihm dabei helfen würde, Arbeit zu finden!

Aber darum geht es jetzt nicht. Ich habe Laila verlassen oder vielleicht hat auch sie mich verlassen. Wir waren zusammen aus unserem Land weggegangen, doch mir wurde schon bald klar, dass ihr Projekt, sich im neuen Land zu befreien, damit verbunden war, alles Alte zu bekämpfen – und allem voran mich. Ihr wiederum wurde klar, dass ich auch an einem anderen Ort an meinen Privilegien als heterosexueller Schriftsteller festhalten würde, dessen Leben sich um seine Inspiration drehte.

Es geht jetzt um Helena. Ich lernte sie vor ein paar Monaten kennen, und zwar wenige Tage, nachdem die Ungerechtigkeit in Form von Bildern, Videos und Zeugenaussagen massiv zum Vorschein gekommen war und natürlich die Aufmerksamkeit der Menschen auf sich gezogen hatte, als hätte es sie noch nie zuvor gegeben.

Laila und ich waren zu einem Treffen der Gerechtigkeitsträumer eingeladen worden. Genau genommen hatte man uns schon zu mehreren Treffen eingeladen, aber wir hatten wie angenagelt vor den Geschichten auf dem Bildschirm gesessen. Wir erkannten immer mehr, wie schwer es für zwei Unterdrückte war, sich in solch einem intensiven Augenblick von den Ereignissen zu lösen. Wohin also mit der Wut? Dazu musste es einen Unterdrückten geben und einen Verbündeten, der ihm zuhörte, sein törichtes Geschwätz akzeptierte und vielleicht für den deprimierten Menschen neben ihm Hummus zubereitete. Jedenfalls ertrugen wir unsere gemeinsame Idiotie nicht. Wir machten uns zu dem Treffen auf, doch unterwegs trennten wir uns. Da mir kein anderer Ort einfiel, den ich hätte aufsuchen können, ging ich allein zum Treffen der Gerechtigkeitsträumer. Schweigend saß ich zwischen all den Unterdrückten und ihren Verbündeten. Meine Gedanken kreisten um Geschichten aus der Vergangenheit, nicht um jene der neuen Tragödie, über die die Anwesenden auf Arabisch, Englisch oder Deutsch sprachen. Alle betonten, wir sollten überall die Augen und Ohren der Menschen mit diesen neuen Geschichten füllen. Ich bemerkte erst, dass das Treffen zu Ende war, als Helena mir die Hand auf die Schulter legte. Bevor sie sich vorstellte, fragte sie mich, wie es mir ginge. Ich nahm an, dass sie mein Schweigen während des gesamten Treffens bemerkt hatte, und verteidigte mich wie ein Angeklagter:

„Ich habe nichts zu sagen!“

Aber sie wollte gar nicht mit mir reden. Sie hielt einen Teller mit Hummus in der Hand, den sie, wie ich später erfuhr, für das Treffen zubereitet hatte. Ich weiß nicht, ob ich damals ihre Schönheit bemerkte, aber vielleicht war es einfach nur der Umstand, dass sie mich überhaupt wahrgenommen hatte. Jedenfalls sagte ich ihr nicht, dass mein Magen keine Kichererbsen verträgt, und aß ihr aus der Hand. Die Schmerzen kamen später, als ich in ihrem Bett das Zusammensein mit ihr genoss.

4

„Kostenloser Hummus für alle!“

Das Schild am Laden rettete mich, als ich in Neukölln ankam, wo die Demonstration stattfand. Ich ging immer noch langsam und überlegte, was ich Helena erzählen könnte, um mich für meine Verspätung zur Demonstration für Gerechtigkeit zu rechtfertigen. Ich suchte auf X nach einer Nachricht über einen Angriff, einen Mord, das Verschwinden von jemandem, die Entdeckung von Leichen, irgendetwas, das in den Ländern der Unterdrückten täglich geschah und als Grund für meine Verspätung dienen könnte, damit sie es gar nicht erst wagte, mich zurechtzuweisen. Doch ich fand nichts. Ich blickte vom Handy auf und sah mich auf der Straße um. Vielleicht gab es etwas, von dem ich behaupten konnte, dass es mich an etwas aus der Vergangenheit erinnerte. Ich würde das Wort verwenden, das ich ständig von ihr hörte, wenn sie davon sprach, etwas gesehen zu haben, das „triggering“ war. Da sah ich das Schild. Es gab keine bessere Ausrede als Hummus gegessen zu haben, der genauso schmeckte wie zu Hause.

Als ich mich anstellte, kam Helenas Nachricht: „Du brauchst nicht mehr zu kommen. Es herrscht bereits Gerechtigkeit!“ Ich erschrak. Bedeutete das, dass Helena mit ihrem Kinderwunsch nicht länger warten würde, da wir ihn doch mit der Schaffung von Gerechtigkeit verknüpft hatten? Ich konnte nicht lange nachdenken, denn alle um mich herum sprachen davon, dass jetzt Gerechtigkeit herrsche. Die Demonstration löste sich auf, bevor sie richtig begonnen hatte, und die Leute liefen seltsam glücklich in alle Richtungen davon und sagten immer wieder: „Es herrscht Gerechtigkeit!“, ohne jedoch zu erwähnen, woher sie diese Information hatten. Ich entdeckte Helena, wusste aber nicht, ob sie mich auch gesehen hatte. Auf jeden Fall lief ich vor dieser plötzlichen Gerechtigkeit davon.

5

Es vergingen zwei Monate, ohne dass ich auf Helenas Nachricht antwortete. Ich verbrachte diese Zeit bei einem Schriftstellerkollegen, einem der wenigen, die meine Skepsis darüber teilten, dass man Gerechtigkeit geschaffen habe. Jeden Tag gingen wir hinaus und fragten die Leute, wann und wie das geschehen sei. Doch in den euphorischen Feiern, die überall auf den Straßen stattfanden, gab uns keiner eine Antwort. Es gab weder Fotos noch Videos noch andere Beweise. Die Einzigen, die leugneten, dass Gerechtigkeit erreicht worden sei, waren die Psychiater, die durch die Straßen liefen und versuchten, die Leute in ihre Praxen zu zwingen. Ich sah auch mehr als ein Video von Influencern, die Content zur Persönlichkeitsentwicklung produzierten und nun marktschreierisch versuchten, die Aufmerksamkeit der Leute auf sich zu lenken, aber es war leicht zu erkennen, dass sie nur wenig Einfluss hatten, so gering war die Zahl der Aufrufe. Und natürlich war auch Elon Musk über den dramatischen Absturz der X-Aktien nicht sonderlich begeistert.

Ansonsten herrschte weiterhin diese unerklärliche Freude, vor allem, als Anzeichen dafür auftauchten, dass sich das Klima plötzlich verbessert hatte, und als man eilig das Rentenalter auf vierzig senkte und die Löhne erhöhte. Hatten all diese Kämpfe nur wegen solcher Banalitäten stattgefunden? Die Sterblichkeitsrate blieb unverändert. Die Leben, die durch die weltweite kostenlose Krankenversicherung gerettet wurden, verlor man durch Sportarten wie Springen von hohen Bergen oder den wieder eingeführten Stierkampf sowie durch die Zulassung des Rechts auf Selbsttötung in allen Ländern der Erde. Doch das bemerkte niemand. Die Menschen aßen und tranken und hatten Sex, als könnten sie ewig so leben.

Allein die Gerechtigkeitsträumer mit ihren Unterdrückten und Verbündeten, von denen ich einigen zufällig auf der Straße begegnete, liefen mit mürrischer Miene und mit der Akribie von Metallsuchern herum und suchten nach einer Geschichte über die Ungerechtigkeit. Jedes Mal, wenn ich einen von ihnen sah, lief er oder sie hinter mir her. Wahrscheinlich nahmen sie an, dass auch ich auf der Suche danach war. Doch nach einer Weile hörten sie auf, mir zu folgen, weil ich täglich viele Kilometer zurücklegte und mein Leben unverändert fortsetzte, immer in Bereitschaft für ein Ereignis, das es zu einem wirklichen Leben machen würde.

Auf einem dieser langen Spaziergänge traf ich Helena. Wir sprachen nicht über das Kind, das wir haben sollten, verabschiedeten uns gleichgültig und gingen unserer Wege. Eine Woche später trafen wir uns wieder. Sie kam mit einem Funkeln in den Augen auf mich zu, das sie sich gerade erst von Laila ausgeliehen zu haben schien, und wir stritten lange vergnügt miteinander. Ich denke, wir beide hatten ein solches Vergnügen nicht mehr empfunden, seit – wie all die Glücklichen um uns herum behaupteten – Gerechtigkeit herrschte.

 

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Dieser Text entstand im Rahmen der Weiter Schreiben Intervention "Die Utopie schaut nicht in deine Augen" am 5. Mai in der Akademie der Künste in Berlin.

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