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Bassem

von Dima Albitar Kalaji

aus dem Arabischen übersetzt von Günther Orth

Bassem und Rabab waren die beiden Hauptfiguren in den syrischen Schulbüchern der Grundstufe unter Hafiz al-Assad, also von den 1970er Jahren bis ins Jahr 2000, als sein Sohn Präsident wurde, Baschar al-Assad. Rabab trug ein rotes Kleid, Bassem ein gelbes Hemd und eine grüne Hose. Sie waren mit Maissun und Mazen befreundet, und hatten natürlich Eltern. Syrer, die heute um die 40 sind, erinnern sich gewöhnlich noch gut an die Zeichnungen und die mit ihnen verbundenen Gedichte, Geschichten und Begriffe wie die vom „emsigen Arbeiter“.

Zu verdanken hatten wir diese Figuren dem linken Künstler Mumtaz al-Bahra, der einer aristokratischen Damaszener Familie entstammte und zu den Pionieren der Kinderliteratur und der Karikatur in Syrien zählt. Er war nur knapp einer Verurteilung zum Tode durch nasseristische Generäle entgangen, die in Syrien vor der Baath-Herrschaft kurzzeitig an der Macht waren – sein Vergehen war gewesen, dass er Staatspräsident Gamal Abdel Nasser karikiert hatte.

Für die Schulbücher entwarf al-Bahra die Utopie einer baathistischen Jugend nach dem Idealbild der Partei. Daneben schuf er Figuren und Geschichten für die Kinder- und Jugendzeitschriften Osama und Samer. Aufgrund von Drohungen gegen ihn und seine Familie von Unbekannten hörte er zunächst mit den Karikaturen auf. Dann stellte er das Zeichnen insgesamt ein, weil er das System „Erfolg durch Beziehungen“ und das Desinteresse an seiner Arbeit nicht mehr ertrug. Schließlich zog er sich ganz aus der Öffentlichkeit zurück, denn obgleich er lange in Institutionen des Baath-Regimes gearbeitet hatte, bestand zwischen ihm und den Mächtigen eine gegenseitige Abneigung. 2017 starb er und hinterließ ganze Generationen ehemaliger Schüler*innen, die mit seinen Bildern Lesen und Schreiben gelernt hatten.

***
Einmal stand ein Mann Ende dreißig in der Nähe des Parlaments in Damaskus, das als eine der größten Dystopien der Welt gelten kann. Er trug einen eleganten weißen Anzug und hantierte mit einem Stofftaschentuch, das er immer wieder öffnete und zusammenfaltete. Dabei sang er so etwas wie einen Zauberspruch, der ihm dabei helfen sollte, etwas Verlorenes zu finden.
Mehr hatte ich von der Geschichte nicht in Erinnerung.
Immer hatten Bassem und Rabab ein Lächeln im Gesicht, genau wie ihre Freunde Mazen und Maissun, ihre Eltern, die Lehrer, die Bauern, die Arbeiter – wer immer den Hintergrund für die jeweilige Schulbuchlektion von Klasse eins bis sechs abgab.

***

Ob der Bauer säte, der Vater schrieb, die Mutter sich ankleidete, Bassem malte oder Rabab spielte, herumtollte oder las – immer ruhten die Zeichnungen mit ihren einfachen Linien in sich. Nur selten interagierten die Figuren miteinander oder sahen sich in die Augen. Sie steckten immer in ihrer eigenen Welt und gingen in dem auf, was sie gerade taten – wobei sie unentwegt beiläufig lächelten. Bassem trug das Lächeln sogar im Namen: Bassem bedeutet „der Lächelnde“.

***
Ich fragte einen Freund, ob er Näheres zu der Geschichte mit dem Mann und dem Taschentuch wisse, aber vergeblich. Auch mein Bruder und meine Mutter hatten keine Ahnung. Schließlich traf ich einen Syrer mit Erinnerungen aus einer anderen Stadt als meiner, und er erinnerte sich sofort.
„Rateb meinst du?“, sagte er.
„Siehst du, jetzt hat er schon mal einen Namen.“
Er habe immer am Bab al-Turkman in Homs gestanden und sein Taschentuch auf- und zugefaltet. Ob er aber dabei ein Lied gesungen oder einen Spruch aufgesagt habe, könne er nicht mehr erinnern.
„Also war das nicht in Damaskus?“, fragte ich.
„Nein, in Homs.“
„Und wonach hat er gesucht?“
„Das wusste niemand so genau. Manche meinten, jemand habe ihm weisgemacht, in seinem Taschentuch sei ein Goldstück versteckt. Andere meinten, er habe an eine Geschichte aus seiner Kindheit geglaubt, dass er einen Schatz finden würde, und danach habe er sein Leben lang gesucht. Er war nicht ganz richtig im Kopf. Manche sagten auch, er sei in Haft gewesen und davon verrückt geworden, aber wer weiß das schon. Auf der Straße erzählen sich die Leute vieles.“
„Und der Gesang? Hatte er eine schöne Stimme?“
„Ich weiß nicht mehr, ob er gesungen hat.“
„Und der schicke weiße Anzug?“
„Nein, das war jemand anderes. Der stand in Damaskus beim Parlament.“
„Ach so!“, sagte ich. „Der, der seine Geliebte nicht heiraten durfte und dann für immer seinen Verlobungsanzug trug und sang? Jetzt weiß ich es wieder. – Und Rateb, wonach hat der gesucht?“
„Vielleicht nach sich selbst.“

***

Die Familie von Bassem und Rabab gehörte zur Mittelklasse, das sah man an der Wohnungseinrichtung. Man konnte sich gut mit ihr identifizieren, egal aus welchen Verhältnissen man selbst stammte.
Der Vater arbeitete in einer Fabrik für Molkereiprodukte, aber er hätte auch irgendein Beamter sein können, oder ein städtischer Ladenbesitzer.
Und während der Vater sozusagen für die Arbeiter stand, war ein Onkel der Kinder der fleißige Bauer und ein anderer ein Schreiner, also ein Handwerker.
Von der Mutter weiß ich keine Einzelheiten mehr. Sie war einfach nur die Mutter. Die Kleidung der Familie war konservativ und ließ weder Reichtum noch Armut erkennen. Sie konnte in jeder größeren oder kleineren Stadt in Syrien leben. Die Eltern reisten manchmal durch Syrien und besuchten die jeweiligen Sehenswürdigkeiten, aber nie wurde erwähnt, woher sie stammten.
Keine der Figuren sah einen an; wir beobachteten ihr Idealleben immer nur von unseren altersschwachen Holzstühlen im Klassenzimmer aus.

Die Utopie schaute einem nicht in die Augen, man sollte sie nur wie ein Wunschbild betrachten. Und ja, man wollte Teil dieser Idylle sein, auch wenn man ahnte, dass hinter dem ewigen Lächeln, das sie uns darbot, ein riesiges Ausmaß an Gewalt verborgen blieb.

Ein beängstigendes Lächeln – beängstigend wie jede Utopie.

***

Das also war die Geschichte von Rateb, einem Mann aus Homs, einer Stadt mitten in Syrien, nicht aus Damaskus, wie ich immer dachte. Und er stand auch nicht vor dem Parlament, sondern am Al-Turkman-Tor, und er sang keine Verse und trug keinen weißen Anzug. Das war jemand anderes.

Er faltet ein besticktes weißes Taschentuch auf und sucht vergebens nach etwas. Dann faltet er es sorgfältig wieder zusammen und dann wieder auf, bis es sich vor lauter Enttäuschung auflöst.

Ich habe meine Zweifel, dass er wirklich Rateb hieß. Ich glaube, er hieß Bassem und er suchte nach einem Lächeln.

 

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Dieser Text entstand im Rahmen der Weiter Schreiben Intervention "Die Utopie schaut nicht in deine Augen" am 5. Mai in der Akademie der Künste in Berlin.

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