Menu
Suche
Weiter Schreiben ist ein Projekt
von WIR MACHEN DAS

> Einfache Sprache
Logo Weiter Schreiben
Menu
Text-2

Das Stecknadelmädchen

von Dima Albitar Kalaji

 

Aus dem Arabischen von Kerstin Wilsch

1

Der Name dieses Museums fasst meine Beziehung zu Deutschland zusammen.
Nein – nicht, was Sie jetzt denken!
Als ich zum ersten Mal von dem Museum hörte, dachte ich, es sei ein Museum für Brücken oder ein Museum nahe einer Brücke.

Ich hatte den Namen der Künstlergruppe noch nie gehört oder vielleicht hatte ich ihn auch nur vergessen. Als mir meine Kollegin den Link zur Website schickte, weil wir herausfinden wollten, ob sich das Museum für ein Projekt eignet, war die Schreibweise anders, weil man in einer Websiteadresse kein „ü“ schreiben kann. Ich dachte, ich hätte mich geirrt mit dem Begriff. Als ich aber die Website öffnete, stellte sich heraus, dass es doch um das Wort „Brücke“ ging, allerdings als Name einer Künstlergruppe.

Erst bei meiner Recherche erfuhr ich, dass sich diese Gruppe noch vor dem Ersten Weltkrieg aufgelöst hatte. Ihre Mitglieder wurden später von den Nazis nicht als Gruppe, aber als Einzelne diskreditiert und vom Kunstbetrieb ausgeschlossen oder „gecancelt“ (ein Wort, das wir in letzter Zeit in Berlin oft verwenden).
Und zwar nicht wegen ihrer politischen oder humanistischen Haltung, sondern wegen ihrer Kunst.

Unterstützt wurden die Künstler von Hanna Bekker vom Rath, ebenfalls nicht als Gruppe, sondern individuell.

Trotz allem sind sie bis heute als Gruppe bekannt.

So kann ich also meine Beziehung zu Deutschland zusammenfassen: Ich liege nicht völlig falsch, aber ich habe auch nicht vollständig recht. Immer gibt es etwas zu berichtigen und Missverständnisse zu korrigieren.

***

2

Ich muss zugeben, dass es nicht einfach war, über die Frau auf dem Tisch zu schreiben. Ich wollte keine syrische Frau aus jener Zeit herbeiholen und sie bitten, ebenfalls auf einen Tisch zu steigen, ganz gleich, ob sie zwischen den beiden Weltkriegen gegen den französischen Kolonialismus gekämpft oder erst später in den Jahren der Unabhängigkeit gelebt hatte. Ich wollte auch keinen feministischen Text über die Rolle der Frauen, ihre Marginalisierung und ihre Kraft schreiben, aber auch nicht über die Kollaborateure und die Opportunisten, über die Schweigenden und die Unentschiedenen.
Mich überraschte, wie unterschiedlich andere diese Frau sahen und in ihren Gemälden darstellten und wie sie sich selbst in ihren eigenen Bildern sah.
Es ist erstaunlich, wie verschieden die Sichtweisen sein können, wie andere uns wahrnehmen und dann falsch darstellen!

Hanna Bekker vom Rath erinnert mich an meine Großmutter, an ihre stolze Haltung, ihre übereinander gekreuzten Beine, wenn sie würdevoll dasaß, ihren durchdringenden Blick.
Diesen Blick erbte meine Mutter von ihr und ich erbte ihn von den beiden.

Im letzten Winter habe ich jemanden gedatet (oder es versucht), nichts allzu Romantisches, eher ein (gescheiterter) Versuch, die Härte des Winters zu mildern. Er liebte meinen durchdringenden Blick. Genau wie ich bewegte er sich zwischen drei oder vier Sprachen hin und her, und deshalb war der Versuch, sich spät am Abend nach einer langen Arbeitswoche sinnvoll zu unterhalten, nicht sonderlich von Erfolg gekrönt. Worte und Buchstaben und Grammatiken aus fünf Sprachen schwirrten in unseren Köpfen umher.

Er machte sich über uns Kulturtätige lustig und amüsierte sich über die Brücken, die wir ständig zu bauen versuchen. „Warum benutzt ihr diesen Ausdruck so oft: Brücken bauen zwischen den Kulturen?“, fragte der große Ingenieur spöttisch, als sei ich die Sprecherin der kulturellen Brücken im Land.

„Weißt du was? Jemand, der ständig davon redet, kann keine wirkliche Vorstellung davon haben, wie man eine Brücke baut“, redete er sich in Fahrt. „Um eine Brücke zu bauen, muss man sich über die Ufer Gedanken machen, die man miteinander verbinden wird, über die Entfernung, den Untergrund, dann die Konstruktion der Brücke, die natürlichen Gegebenheiten, die Materialien, Druck, Vibration, Gewicht, Widerstand, Ästhetik. Die Konstruktion einer Brücke ist ein Akt höchster Präzision, Schönheit und Sensibilität, er ist der Gipfel von Verbindung und Trennung zugleich.“
Ich hörte ihm mit einer Mischung aus Ärger und Begeisterung zu und dachte, dass ich realistischerweise die Literatur aufgeben und Ingenieurwissenschaften studieren sollte. Dann würde es mir gelingen, stabilere kulturelle Brücken zu bauen, anstatt weiter in der Luft umherzuschweben wie in den letzten zehn Jahren.

„Eines Tages, wenn ich eine Brücke entworfen und gebaut habe, werde ich aufhören zu arbeiten. Dann will ich nichts mehr tun. Ich werde den Höhepunkt meines Schaffens erreicht haben. Eine Brücke zu bauen ist wie das Schreiben eines Gedichts. Es ist das Schönste, was passieren kann!“, beendete er seine Ausführungen.

Der Arme, er war nicht poetisch genug, um eine Brücke zu bauen.
Weder zwischen zwei Ufern noch zwischen zwei Menschen und so wurde er zu einer Passage in einem Text, den man in einem Museum vorträgt.

Jeder von uns hat einen Platz in den Geschichten anderer. Er war der Mann, der davon träumte, eine Brücke zu bauen, und so zu einer halben Geschichte wurde.

Der Mann mit einer Brücke ohne Ufer.

Ich bin das Mädchen mit den Stecknadeln.

***

3

Als ich noch ein Kind war, stellte mich meine Großmutter auf einen Holztisch im Wohnzimmer. Langsam drehte ich mich um mich selbst, während sie die Stecknadeln ruhig und vorsichtig in den Stoff des Kleides steckte, das sie für mich nähte. Sie zog die Taille hoch, richtete die Falten an den Schultern, befestigte den Kragen. Meine Großmutter lobte mich für meine Geduld, doch dann schimpfte sie mit mir, wenn ich ohne Verstand mit einem Kleid voller Stecknadeln auf den Boden sprang.

Sie stellte mich zum ersten Mal auf den Tisch, als ich kaum ein Jahr alt war, und obwohl sie vor zwei Jahren gestorben ist, wir unsere Wohnung vor vier Jahren verloren und ich vor zehn Jahren das Land verlassen habe, hebt sie mich immer noch auf den Tisch und ich sehe die Welt, eine Mauer nach der anderen, vor mir ausgebreitet.

Ich stand auf dem Holztisch im obersten Stock und erblickte auf der Mauer des gegenüberliegenden Gebäudes einen Soldaten. Zwischen uns lag eine Straße und natürlich war es verboten, über die Mauer hinauszuschauen. „Lass sie nicht merken, dass du sie ansiehst“, sagte meine Großmutter und fuhr fort, die Stecknadeln an die Ränder des Kleides zu stecken. Ich konnte in der Ferne den Hof des Gerichtsgebäudes sehen und somit auch die Autos mit den Gefangenen, den bewaffneten Soldaten, den Offizieren und Militäranwälten, die dort ankamen.
Als Kind war ich neugierig, als Erwachsene neugierig und wütend. Seit vierzig Jahren bin ich ein Auge, das sich auf einem Tisch dreht und das Geschehen beobachtet, während mir die Staatsmacht hinter einer Mauer mit dem Gewehrlauf gegenübertritt, mit Bomben, die aus Flugzeugen fallen, mit Grenzpolitik, Gesetzen, die nicht alle gleich behandeln, voreingenommenen Medien, Geschichtsverfälschung, politischer Unterrepräsentation, Rassismus, Diskriminierung …

***

4

Meine Großmutter hat nie ein Tagebuch geschrieben und deshalb kann ich nicht aus ihren Aufzeichnungen zitieren. Was ich über sie weiß, wurde mir zumeist von anderen erzählt, nicht von ihr selbst. Vielleicht hat sie im Zweiten Weltkrieg nur trockenes Brot gegessen, die Franzosen stahlen dem Land all seine Reichtümer, sie brachten fremde Soldaten zu uns und nahmen unsere Jugend mit in fremde Länder.

Ich weiß, dass meine Großmutter auf sich selbst und ihre Familie stolz war, fotografiert zu werden hasste und ein Mathegenie war, das jegliche Rechenoperationen schnell und genau im Kopf ausführen konnte. Während des Zweiten Weltkriegs musste sie die Schule abbrechen und schwor, ihren fünf Töchtern um jeden Preis eine Hochschulbildung zu ermöglichen. An diesen Schwur hielt sie sich.

Wenn sie lachte, wurde sie rot und Tränen rollten ihr über das Gesicht.

***

5

Der libanesische Autor Wadih Sa’adah schrieb:

„Ich habe nichts zu sagen. Ich möchte nur reden, eine Brücke aus Tönen bauen, die mich mit mir selbst verbindet. Weit voneinander entfernte Ufer, die ich durch Töne zu verbinden versuche. Die Wörter sind Töne, nichts weiter. So ist es jetzt und so war es schon immer. Töne, die wir an niemanden richten. Wir reden nicht mit den anderen. Wir reden nur mit uns selbst.“

 

Weitere Texte von Dima Albitar Kalaji

Dieser Text entstand im Rahmen der Weiter Schreiben Intervention "Turning Tables" am 5. Mai 2024 im Brücke Museum Berlin.

Zurück

Datenschutzerklärung

WordPress Cookie Hinweis von Real Cookie Banner