Wolken, die mich für einen Baum halten - Vier Gedichte
1
Wie geht es dir, Damaskus?
Nur wenige Stunden bin ich von dir entfernt,
aber so weit, dass die Hand meiner Mutter mir nicht mehr wie leichter Regen über den Rücken streichen kann.
Die Distanz zwischen uns beträgt einen kurzen Anruf bei Freundinnen,
die ich früher gleich danach aufgesucht hätte.
Zwischen uns liegen Tränen aus Augen,
die um deine alten Gassen trauern.
Ich wusste gar nicht, wie sehr ich dich liebe!
Ohne die beschützenden Blicke meiner Mutter zu leben habe ich nicht gelernt
und ich weiß nicht mehr, wie der Tag meiner besten Freundin war.
Wie geht es dir, Damaskus?
Du harte, gute Stadt?
Ich möchte dir sagen,
dass Geschwister von mir noch unter deinen Wunden atmen
und dass ich ihnen eine andere Zukunft gewünscht hätte.
Sei gnädig mit allem, was ich hinterlassen habe.
Jetzt schon sage ich Guten Morgen
zu deinen Bäumen,
Die alles stumm beobachten,
zu deinen Straßenhändlern,
zu meinen Nachbarinnen von damals,
die mich vom Fenster aus gegrüßt haben,
und zu jeder Erinnerung, die ich noch an dich habe.
Guten Morgen, wann immer jemand dich hasst
und dich gegen eine kalte Stadt eintauschen will.
Guten Morgen jedem, der es bisher nicht geschafft hat,
deinem Griff zu entfliehen.
Guten Morgen, Damaskus,
du geliebter Steinhaufen in meinem Herzen.
2
Seit Monaten sitze ich auf gepackten Koffern,
vermeide jede Begegnung
und schiebe alles auf:
Meine Nägel pflegen,
meine Haarspitzen schneiden,
Freundinnen verabschieden,
Türen schließen, die ins Dunkle gehen …
Über meine nicht heilen wollenden Wunden
streiche ich nur mit den Fingerspitzen,
wie man eine Rose betastet.
Fragen sind offene Gräber,
die auf meine Tränen warten wie auf eine Antwort.
Aufstehen,
Zähne putzen,
Kleidung wechseln,
das alles scheint mir eine Riesenleistung.
Seit Monaten lebe ich wie ein Schatten.
Ich mache mir Aussicht auf kleine Freuden,
setze mich manchmal in die Sonne und hoffe,
dass sie mir etwas von sich abgibt.
Ich bin das Opfer meiner Träume,
die mich ewig verfolgen werden,
bis sie beseitigen, was noch von mir da ist.
3
Dass jemand sich irgendwo an mich erinnert,
bedeutet, dass ich lebe.
Ich möchte keine Frau sein, die vergessen wird.
Es quält mich, dass ich das Lachen meiner Mutter
nicht mehr sehen werde
und nicht das Glänzen in den Augen alter Freunde,
wenn mein Name ihr Herz rührt.
Es quält mich, dass die Nachbarinnen mich bald vergessen haben werden
und beim Kaffeetrinken nicht mehr von mir reden.
Vieles quält mich:
Die Freundinnen, die nicht mehr auf mich warten,
wenn sie sich zufällig treffen,
die Arbeitskollegen, die Worte verwenden, die ich erfunden habe,
aber sich nicht an mein Gesicht erinnern.
Da bin ich nun
wie ein Skelett,
durch das ich auf mein Leben blicke,
wie es geschichtenfrei vergeht,
und auf meine wenigen verbliebenen Erinnerungen
an Häuser, die ich einst liebte
und die zu Bäumen wurden
und ihre Bewohner zu Zugvögeln.
Aber ich weiß, dass ich für irgendjemanden
einmalig bin.
4
Ich dachte immer, ein Mensch sähe aus wie sein Haus.
Aber was ist mit Wolken, die es für einen Baum halten?
Wenn seine Fenster leuchten,
bilden sie sich am Himmel,
während meine Fantasie aus leeren Käfigen besteht.
Ich lese gern etwas in Häuser hinein,
besonders in unheimlich anmutende.
Sie geben mir ein Gefühl davon,
was im Innersten der Welt geschieht.
Häuser aber, in denen es nach Essen riecht, wo Katzen sich wohlfühlen und aus deren Fenstern Kinder gucken,
erinnern mich daran, dass ich in meinen Händen
all meine verlorenen Puppen halte.
Seit Kurzem habe ich eine Wohnung,
die ich peinlich sauber halte.
Freundlichkeit und Ruhe bestimmen mein Leben.
Was will man mehr, als dass die eigene Wohnung die Sonne anbetet?
So arbeite ich ein weiteres Mal an meinen Träumen
und halte sie nach und nach besser fest.
Sie sind, stelle ich fest, eine Wohnung,
die nicht nur in meiner Fantasie existiert.