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Nader, der Bulle

Abdul Wahid Rafee
Moshin Taasha: Now a Days, Zeichenstift auf Papier, 50x70 cm (2024)
© Moshin Taasha: Now a Days, Zeichenstift auf Papier, 50x70 cm (2024)

 

Golschah holte tief Luft. Er nahm den Bund Weizen, den er geerntet hatte, von seiner Schulter, legte ihn auf den Boden und setzte sich daneben in den Schatten eines Holunderbaums. Während er sich mit einer Ecke seines Umschlagtuchs den Schweiß von Gesicht und Hals rieb, legte er seine hohe Stirn in Falten und rief: „Vater von Sabih! Haben sie dir dein Pausenbrot immer noch nicht gebracht?“ Er fächelte sich mit dem Zipfel seines Tuchs Luft zu und fuhr fort: „Die Mutter von Sabih scheint sich überhaupt nicht um dich zu kümmern.“

Nader, der Vater von Sabih, den sie auch Nader, den Bullen, nannten, setzte die Sichel an ein Büschel Weizenhalme und murmelte etwas zwischen seinen Lippen. Hastig und voller Zorn fuhr er mit der Ernte fort. Die Spitzen der Weizengarben, die er mit der Sichel schnitt, schienen unter der heißen Sonne der Erntezeit in Flammen aufzugehen.

Nach einigen Hieben sagte Nader, der Bulle: „Das Pausenbrot ist egal. Wenn doch nur die verfluchte Tochter kommen würde, um die Halme einzusammeln, die unter den Füßen zu Staub und Asche werden.“

Um den Zorn von Nader, dem Bullen, anzuheizen, sagte Nabi, den sie auch Nabi, den Krüppel, nannten: „Was ist nur mit diesen Erntehelfern los?“

Auf diesen Feldern hatte einmal alles seine Ordnung gehabt. Zuerst hat Nader, der Bulle, gemäht, dann hat seine Frau, die Mutter von Sabih, die Garben gebunden und zum Dreschplatz gebracht. Danach haben die Töchter alle Halme, die noch verstreut herumlagen, eingesammelt und in Körbe gelegt, die sie auf dem Rücken trugen. Und zum Schluss haben die Hirten ihre Schafherden über den Acker getrieben.

Nabi, der Krüppel, saß da und schliff seine Sichel. Seine weißschwarzen Haare hingen ihm unter dem Hut in die Stirn. Er schaute zu Nader, dem Bullen, der den Kopf immer noch gesenkt hielt und dessen stöhnender Atem sich zwischen dem Klirren der Sichel und dem Weizen verlor: „Ach, Bulle! Diese Frau schert sich einen Dreck um dich. Schick sie fort wie die anderen, damit du sie los bist.“ Laut schreiend lachte er über das, was er gerade gesagt hatte.

Auch Ismail rief Nader zu: „Sie denkt überhaupt nicht an dich. Sieh uns an. Uns hat man das Pausenbrot schon gebracht.“

Nabi, der Krüppel, sagte: „Ach, Bulle! Es reicht. Lass uns Tee trinken.“

In diesem Moment stellte Ismails Tochter eine Kanne mit heißem Tee in den Schatten des Baumes, öffnete das Brotpaket, das sie auf dem Rücken trug, und reichte es ihrem Vater. Golschah fragte das Mädchen: „Hast du denn keine Sauermilch mitgebracht, Mädchen?“

Anstelle seiner Tochter antwortete Ismail: „Gott hat die Kuh trocken werden lassen. So traurig es ist, aber wir werden wohl nicht einmal ein Stück Trockenquark zu sehen bekommen.“

Nabi, der Krüppel, stichelte weiter gegen Nabi, den Bullen: „Wenn ich an Naders Stelle wäre, würde ich so eine unfolgsame Frau mal richtig rannehmen.“ Als er das sagte, schaute er zu Nader und lachte wiehernd los. Es klang, als wolle jemand das Schreien eines Esels nachmachen.

Ismail warf ein: „Stimmt! Wenn er in Fahrt kommt, rennt er mit dieser Ladung Holz nach Hause und legt die Frau flach.“

Golschah sagte: „Man nennt ihn ja nicht umsonst Nader, den Bullen.“ Zu Nader gewandt sagte er: „Ach komm, mein lieber Nader. Lass uns etwas von diesem Tee hier trinken, bis dein Pausenbrot kommt. Mit einem Schluck Tee wird alles besser.“

„Wohl bekomm‘s!“, antwortete Nader mürrisch und brabbelte etwas in seinen Bart. Er nuschelte, als ob er nicht normal reden könnte. Dabei war er einer von denen, die klar mit Ja oder Nein antworten, wenn man sie etwas fragt. Doch jetzt erntete er einfach weiter. Er schenkte den Sticheleien keine Beachtung und tat, als hätte er Watte in den Ohren. Jedes Mal, wenn seine Sichel auf die Halme traf, wirbelten die Ähren durch die Luft und fielen irgendwo zu Boden, wo er sie nicht mehr greifen konnte. Immer mehr Ähren landeten unter den kräftigen Hieben seiner Sichel weit verstreut auf dem Acker. Je wütender Nader, der Bulle, wurde, umso besser war es für die Mädchen, die später die Stoppeln und liegengebliebenen Halme vom Feld einsammelten.

Ismail sagte: „Von der Mutter von Sabih ist ebenso wenig Hilfe zu erwarten wie vom Fell eines Esels. Es ist, als ob man einem Esel mit dem Stock auf das Hinterteil schlägt, bis er bei Gott den Geist aufgibt.“

Nabi, der Krüppel, sagte: „Hast du so etwas irgendwann einmal gesehen? Bei Gott zeig Reue! Niemand schlägt einen Esel so derb. Aber wenn man von jemandem sagt, dass er wie ein Bulle ist, dann ist er wie ein Bulle!“ Er blicke zu Nader, dem Bullen, und lachte erneut wiehernd los ...

Mit gerunzelten Brauen schaute Golschah zu Nabi, dem Krüppel: „Ach komm schon, Vater von Sabih, trink Tee und ruh dich einen Moment aus!“

Ohne Golschah zu antworten, rief Nader, der Bulle, einem Mädchen, das mit gekrümmtem Rücken hastig die Stoppeln ausriss, wütend zu: „He! Mädchen, lass sie stehen! Lass sie stehen!“ Dann sprang er auf, griff nach einem langen Stock und warf ihn auf das Mädchen, als ob sie nicht gehört hätte, was er gerade gesagt hat. Dabei fauchte er: „Ich habe dir mehrmals gesagt, dass du die Stoppeln stehen lassen sollst, bis die Halme eingesammelt sind!“ Das kleine Mädchen sprang auf. Der Stock rollte unter ihren Beinen davon und blieb neben einem der Halme liegen.

Ismail wurde wütend und sagte: „Schlag die Arme nicht! Willst du ein Menschenkind töten wegen eines Weizenhalms?“

Golschah schaute zu dem Mädchen, das wegen Naders Zorn ganz erschrocken dastand: „Komm hierher, Mädchen! Komm hierher! Er ist nicht bei Sinnen.“ Das Mädchen trat zur Seite und sagte: „Ich stand überhaupt nicht auf den Halmen, als ich die Stoppeln ausgerissen habe.“

Nader brauste wieder auf. „Wie oft habe ich gesagt, dass du keine Stoppeln ausreißen sollst. Du hörst nicht auf das, was man dir sagt, und machst einfach weiter.“ An das Mädchen gewandt griff Ismail Naders Worte auf: „Er hat recht. Müssen die Stoppeln wirklich dort ausgerissen werden, wo noch Halme liegen? Warte einen Moment, bis die Halme eingesammelt sind.“

Nabi, der Krüppel, jaulte los und sagte lachend zu Nader, dem Bullen: „Was können die armen Mädchen, die hier die Stoppeln ausreißen, dafür, dass die Mutter von Sabih den Tee nicht gebracht hat?“

In diesem Moment war aus der Ferne das Knattern von Hubschraubern zu hören. Alle schauten, woher die Geräusche kamen. Zwei Hubschrauber kamen hintereinander aus Richtung Ghasni. Als sie sich näherten, flogen sie so tief, dass die Mädchen ihre Ohren mit den Handflächen bedeckten und sich auf den Boden knieten. Der Wind der Propeller wirbelte die auf dem Boden liegenden Halme durch die Luft, die vom Weizenstaub ganz gelb wurde. Das Dröhnen der Hubschrauber übertönte alle anderen Geräusche. Eine Weile schauten die Schnitter, die Stoppelmädchen und sogar die Kühe und Schafe den Hubschraubern hinterher, bis sie hinter den dichten Bäumen des Koruchan-Waldes verschwanden. Ismail sagte: „Was für gottlose Ungeheuer!“

Ein alter Mann, der auf einem Esel angeritten kam und mit seinen knochigen Beinen von beiden Seiten hastig in den Bauch des Esels schlug, rief den Schnittern zu: „Sie sagen, dass eine Kolonne kommt, Panzer!“ Dann zeigte er auf die Hubschrauber, die über dem Koruchan-Wald kreisten: „Wollt ihr nicht nach Hause gehen?“

Nader, der Bulle, sagte: „Ein Unheil folgt dem anderen. Es kommt, wie es kommt. Was geht uns das an?“

Der alte Mann antwortete, ohne von seinem Esel abzusteigen. „Sie haben uns gesagt, dass wir weggehen sollen. Es wird Krieg geben. Sonst weiß ich nichts.“

Nabi, der Krüppel, rief: „Noch sind keine Panzer und solches Zeug zu sehen. Was haben sie denn gesagt? Sollen wir die Arbeit liegen lassen und verschwinden?“

Der alte Mann trieb seinen Esel an und rief: „Die Mudschaheddin sind in die Wälder gegangen.“

Währenddessen schlenderte ein Esel, der mit gesenktem Kopf graste, vom Rand der Felder zu Naders Acker und näherte sich den Weizenhalmen, die Nader gerade geerntet hatte. Der Esel hatte noch nicht einmal die Stoppeln berührt, als Nader, der Bulle, aufsprang und schrie: „Verflucht sei die Frau deines Besitzers!“ Mit einem langen Stock warf er sich gegen den Esel. Dieser konnte sich mit einigen Sprüngen aus Naders Fängen befreien. Nader, der Bulle, lief zurück. Er hob seine Sichel vom Boden auf und sagte zu Nabi, dem Krüppel: „Du hast Glück gehabt, mein Krüppel, dass ich keine Sichel in der Hand hatte. Anderenfalls hätte ich dir die Innereien deines Esels auf einem Speisetuch serviert und du kämst angerannt, um mir die Eier zu kraulen.“

Nabi, der Krüppel, entgegnete mit verschwitztem Gesicht: „Ach, mein lieber Nader, wir haben dich einen Bullen genannt. Einen Bullen haben wir dich genannt. Jetzt sind dir wirklich Hörner gewachsen und du glaubst tatsächlich, dass du ein Bulle bist. Komm zur Besinnung. Ich bin doch nicht die Mutter von Sabih.“

Nader antwortete: „Anstatt Scheiße zu reden, solltest du auf deinen Esel aufpassen.“

Nabi, der Krüppel, sagte: „Woher soll denn der Esel wissen, dass dies der Acker von Nader, dem Bullen, ist? Hier führt sogar einen Steg über den Bewässerungsgraben. Du tust so, als hätten wir dir einen Dorn in den Arsch gerammt.“

Nader antwortete: „Natürlich weiß der Esel so etwas nicht. Aber du bist ein Mensch und solltest ihn anbinden.“

Ismail wandte sich an Nabi, den Krüppel: „Halt jetzt den Mund. Nimm einen Stock und treib den Esel weg. Das ist doch kein Weltuntergang.“

Nader sagte: „Weder der Esel ist tot noch sein Herr. Warum bindest du ihn nicht an?“

Ismail sagte: „Lass gut sein, Nader. Komm und trink Tee, du bist müde. Verdirb nicht die Stimmung.“

Golschah fuhr fort: „Zeigt Ehrfurcht vor Gott! Von euch beiden ist ja einer schlimmer als der andere.“

Die Hubschrauber kreisten wieder am Himmel. Über der Fernverkehrstraße von Kabul nach Kandahar flogen die Hubschrauber so tief, dass man denken könnte, sie stünden auf der Ladefläche eines Autos. Als sie den Koruchan-Wald erreichten, stiegen sie wieder auf. Ismail schaute den Hubschraubern hinterher: „Da bekommt man ja Angst. Wie können sie so schnell aufsteigen?“

Nabi, der Krüppel, sagte: „Der Wald ist voller Mudschaheddin mit Raketen. Sie haben Angst.“

An Ismail gewandt, fragte Nabi, der Krüppel: „Die Wievielte ist die Mutter von Sabih eigentlich?“

Ismail sagte: „Golschah muss das wissen. Die Wievielte ist es?“

Golschah fragte: „Wie, die Wievielte?“

Nabi, der Krüppel, sagte: „Die wievielte Frau von Nader, dem Bullen, ist die Mutter von Sabih?“

Golschah antwortete: „Was weiß ich? Die fünfte oder die vierte. Auf jeden Fall hat er schon vier oder fünf überlebt.“

Ismail sagte: „Von Frauen, die ihren Ehemann um die Ecke bringen, habe ich schon gehört, aber einen Kerl, der seine Frau um die Ecke bringt, habe ich noch nie gesehen.“

Nabi, der Krüppel, fragte: „Hat er sich von den anderen scheiden lassen oder hat er sie umgebracht?“

Golschah sagte: „Das weiß nur Gott allein. Die Leute sagen, dass er eine getötet hat.“

Ismail sagte: „Da war die Tochter von Mirab, dem Wasserwart. Die Arme ist gestorben, als sie ein Kind zur Welt brachte. Eine andere hat er fortgejagt.“

Golschah sagte: „Eine, so wird erzählt, ist am Abend schlafen gegangen und am nächsten Morgen nicht mehr aufgestanden.“

Derweil tauchte in der Ferne die Mutter von Sabih auf. Sie war fett und ihre Brüste schritten ihr voran. Ihr Kopftuch war zurückgefallen und der Kragen ihres Kleides stand wie immer bis zum Brustansatz offen. In ihrer rechten Hand trug sie eine Teekanne und unter ihrem linken Arm versuchte sie, die kleine Resgol zu halten. Hinter ihr lief die alte Großmutter mit einigen Broten auf dem Kopf. Sie hinkte mit einem Bein und trug ihre Pantoffeln in der Hand. Hinter ihr kam Sabih, der ein Schaf an der Leine führte, das bockig hinter ihm her trottete. Hinter dem Schaf lief Abu mit einem Stock in der Hand und schlug immer wieder auf das Schaf ein, damit es weiterlief.

Als Nabi, der Krüppel, die Mutter von Sabih erblickte, rief er: „Sie ist da! Sie ist da! Freu dich, mein lieber Bulle! Die Mutter von Sabih ist gekommen. Hihihi!“

Ismail sagte: „Beim Allmächtigen! Wenn man da nicht vom bösen Blick getroffen wird! So kokett, wie sie daherkommt!“

Golschah sagte: „Beruhigt euch. Ihr tut ja gerade so, als wolltet ihr sie zu Stockhieben verurteilen.“

Die Mutter von Sabih kam näher. Sie ging schwerfällig und selbstbewusst. Ihr Kleid war so weit geöffnet, dass man ihren dicken Bauch bis zum Nabel sehen konnte.

Nader, der Bulle, stand auf. Er nahm den Stock, der zwischen den Weizenhalmen lag, und eilte auf die Mutter von Sabih zu, die nur noch wenige Schritte von ihm entfernt war. Golschah sagte zu Ismail: „Geh los! Geh los! Schneid ihm den Weg ab, sonst wird er die Arme umbringen.“

Nabi, der Krüppel, sagte: „Oh Gott, nein. Ich glaube, hier beginnt gerade eine Tanzaufführung.“ Kaum hatte er das gesagt, begann er wiehernd zu lachen. Golschah, der sich leicht erhoben hatte, rief Ismail erschrocken zu: „Geh und greif ein. Er wird die Frau umbringen.“ Nader, der Bulle, sprang auf die Mutter von Sabih zu und rief: „Du Tochter einer Hündin! Ist jetzt die Zeit für das Pausenbrot? An den Schenkeln welches verfluchten Schurken hast du bis eben geschlafen?“

Als Nabi, der Krüppel, das hörte, lachte er wieder wiehernd auf. Nader, der Bulle, sprang auf  die Mutter von Sabih zu, während er den Stock wie ein Schwert über seinem Kopf schwang. Ismail warf sich, nach Luft japsend, Nader, dem Bullen, in den Weg und schlug ihn in die Hüfte. Doch Nader, der Bulle, schleuderte den Stock gegen die Mutter von Sabih. Die Teekanne fiel ihr aus der Hand und sie selbst stürzte mit der kleinen Resgol, die sie unter dem anderen Arm hielt, auf die Teekanne. Der Stock traf sie am Arm. Ein Ende davon zerkratzte ihr dabei die Stirn. Nabi, der Krüppel, und Ismail rannten los und hielten Nader, den Bullen, mit ihren Armen fest.

Nabi, der Krüppel, krümmte sich vor Lachen. Golschah bückte sich, griff der Mutter von Sabih unter die Arme und versuchte ihr auf die Beine zu helfen. Er murmelte: „Du Arme! Schnell, bringt ihr etwas zu trinken.“ Als die Mutter von Sabih ihr Blut sah, legte sie die kleine Resgol auf dem Boden ab und begann zu schreien: „Beim Grab deines Vaters! Du Hundesohn! Du traditionsloser Ungläubiger! Es war kein Mensch, die dich mit ihrer Milch großgezogen hat.“

Ihre Stimme vermischte sich mit dem Geräusch der Hubschrauber. Plötzlich ertönten ringsum Schüsse aus Maschinengewehren und Kanonen. Eine Panzerkolonne überquerte die Hauptstraße. Als sie am Koruchan-Wald ankam, begann ein Schusswechsel aus Maschinengewehren und Kanonen. Die Mudschaheddin fielen auf der Straße über eine sowjetische Panzerkolonne her.

Ismail sagte: „Auch das noch! Der Krieg hat begonnen.“

Die Geräusche der Kanonen und Raketen vermischten sich und erfüllten zusammen mit dem Donnern der Hubschrauber den ganzen Himmel, so dass niemand den Schrei der kleinen Resgol hörte, die auf den Boden gefallen war. Die Teekanne war umgefallen und aus der Tülle floss heißer Tee wie aus einem Wasserhahn auf die Beine des kleinen Mädchens. Sie schrie, aber niemand hörte es. Alle waren mit sich selbst beschäftigt, bis Golschah plötzlich rief: „Oh, was für ein Unglück! Die Beine des Mädchens sind verbrüht.“ Mit einem Fußtritt stieß er die Teekanne zur Seite. Als Nader, der Bulle, die verbrühten Beine seiner Tochter sah, geriet er von Neuem in Wut und rannte wieder auf seine Frau zu. Diesmal packte er sie am Kleid und schlug sie hinter dem Ohr. Die Frau verlor die Besinnung und fiel am Feldrand nieder. Dort lag sie einen Moment lang regungslos, bis sie sich wieder sammelte und aufstehen konnte. Ihr großer Körper sah aus wie ein Zelt, das im Wind schwankte. Ihr Kleid war bis zum Saum aufgerissen, das Kopftuch war heruntergefallen und der Zopf an ihrem Hinterkopf schwang wie eine Peitsche hin und her. Sie hob einen Stein auf und warf ihn nach Nader, dem Bullen. Der Stein wirbelte durch die Luft and traf das Ohr des Esels, der auf der anderen Seite stand und das Treiben verfolgt hatte.

In diesem Augenblick brachte der Knall einer Explosion alle zum Schweigen. Im Feuer von Maschinengewehren schlug am anderen Ende des Feldes eine Rakete ein. Alle warfen sich übereinander auf den Boden. Das Geräusch ließ die Menschenmenge, die sich versammelt hatte, um Nader, dem Bullen, und seiner Frau zuzuschauen, für einen Moment verstummen, bis ein Aufschrei der Mutter von Sabih das Schweigen durchbrach und sich mit dem Schreien der kleinen Resgol vermischte, die wegen ihrer Verbrühung laut jammerte. Als sich der Rauch und der Nebel der Raketenexplosion gelegt hatten, nahm Nader, der Bulle, erneut einen Stock und ging auf seine Frau zu. Wieder stellte sich Golschah mit seinem Körper wie einen Schild dazwischen, als eine weitere Rakete ein Flugzeug traf. Ismail rief: „Lauft hinter die Mauer, lauft in den Garten.“ Nader, der Bulle, ergriff den Arm der Großmutter, hob sie vom Boden hoch und mit der anderen Hand packte er Sabih am Rücken und zerrte ihn nach hinten in den Garten. Die Mutter von Sabih, die das Schaf an der Leine hielt, fiel mit den anderen in einen Graben am Weingarten. Golschah schrie sie an: „Dies ist das Ende aller Tage und du ziehst ein Schaf hinter dir her!“

Die Erntearbeiter und die Mädchen warfen sich neben den Bewässerungsgräben hinter der zerfallenen Gartenmauer übereinander, um Schutz zu finden. Nabi, der Krüppel, wieherte immer noch. Die Schafe, die Rinder und die Esel erschraken im Rauch und Staub der Explosion, verließen ihre Herden und rannten ziellos in alle Richtungen. Nader, der Bulle, lag auf dem Rücken hinter der Mauer und hielt Resgol, die immer noch wegen ihrer verbrühten Beine schrie, auf seiner Brust. Er betastete das verbrannte Bein seiner Tochter, auf dem sich eine große Blase gebildet hatte: „Schau dir das an! Schau dir das an! Wegen dieser Tochter einer Hündin ist dieses kleine Kind ganz verkrüppelt.“

Die Mutter von Sabih, die noch immer die Leine mit dem Schaf in der Hand hielt, antwortete: „Ist es meine Schuld oder deine, du Ungläubiger und Traditionsloser?“ Als er hörte, wie sie ihn als traditionslos beschimpfte – so nennt man einen nicht beschnittenen Mann –, warf Nader, der Bulle, die kleine Resgol voller Zorn von seiner Brust weg in einen Wassergraben am Weinstock und sprang auf. Im Schutz der Mauer stürzte er vornüber gebeugt auf seine Frau los. Ismail, der noch auf dem Boden lag, fasste nach Naders Fuß und Nader stürzte in den Graben. Die kleine Resgol schrie noch lauter. Die Mutter von Sabih fiel vor Lachen in Ohnmacht. Das Lachen und Weinen vermischte sich mit den Schussgeräuschen der Panzerkanonen und Maschinengewehre. Es kam einem vor, als säße man in einer Ecke des Basars inmitten der Trommeln und anderen Instrumente der Musiker, die dort manchmal aufspielten.

Als sich das Geräusch eines Hubschraubers näherte, schwiegen alle einen Augenblick lang. Direkt über der versammelten Menschenmenge stieg Rauch aus dem Heck des Hubschraubers auf, bevor er in Flammen aufging. Wie das Blöken einer Kuh durchbrach der Lärm einer Rakete die Luft. Alle versteckten ihre Köpfe hinter der Mauer und neben dem Wassergraben am Weinstock.

Nabi, der Krüppel, lachte noch immer: „Das nenne ich eine Vorstellung! Mein lieber Gott!“

Nader, der Bulle, sagte: „Für dich mag es ein Theater sein, du Hundesohn, du wieherst und lachst.“

Golschah sagte: „Seid doch einmal ruhig. Bei Gott! Ihr seid ja schlimmer als die Sowjets.“

Nader, der Bulle, sprach zur Mutter von Sabih: „Alle Ungläubigen werden verschwinden. Das weiß ich und du weißt es auch.“

Ismail sagte: „Haltet wenigstens einen Moment lang Waffenruhe, bis die Panzer weg sind, dann …“ Das Ende seiner Worte war nicht mehr zu hören, da eine Rakete mitten auf dem Weizenfeld einschlug. Für einen Augenblick wurde alles dunkel. Weizenähren wirbelten zusammen mit Dreck und dem Schrot der Rakete durch die Luft. Dann begann das Weizenfeld zu brennen. Ein Halm nach dem anderen fing Feuer. Golschah rief: „Feuer, es brennt! Der Weizen brennt!“

Ismail rief: „Wir müssen das Feuer löschen, bevor es die Tenne erreicht!“

Nader, der Bulle, rief: „Los jetzt!“

Nabi, der Krüppel, sagte: „Das ist deine Tenne und wir sollen rennen?“

Nader, der Bulle, sagte: „Das Feuer zieht doch weiter und wird auch vor deiner Tenne nicht Halt machen.“

Die Flammen schossen in die Höhe wie Fontänen. Die Feuersbrunst brach sich ihren Weg. Ismail rief: „Die Tennen! Die Tennen haben Feuer gefangen.“

Unter dem Dröhnen der Schüsse drangen die Flammen immer weiter vor. Nader, der Bulle, flehte: „Lauft! Lauft um Gottes willen! Die Tenne brennt.“

Golschah schlug die Hände vor sein Gesicht: „Wie sollen wir es durch diesen Kugelhagel schaffen?“

Nader, der Bulle, rannte gebückt über das Weizenfeld in Richtung der Tenne, die gerade Feuer gefangen hatte. Seine Frau rief: „Geh nicht! Bleib hier, Bulle! Eine Kugel wird dich treffen und dann ist nicht nur die Ernte hinüber.“

Aber Nader, der Bulle, war schon losgerannt. Ismail folgte ihm. „Wenn sie abbrennt“, sagte er, „dann sterben wir morgen vor Hunger“, und rannte weiter in Richtung der Tenne. Nader, der Bulle, war noch nicht an der Tenne angekommen, als er aufstöhnte und stürzte. Er fiel auf eine in Flammen stehende Garbe. Einen Augenblick lang versuchte er noch, zurück hinter die Mauer zu gelangen, aber er verlor den Atem und Blut strömte pulsierend aus seinem Hals. Jetzt bekam auch Nabi, der Krüppel, es mit der Angst zu tun. Das Lachen gefror ihm im Gesicht und sein Mund stand weit offen vor Furcht. Wie sprachgestört sagte er mit zitternder Stimme: „Hat ihn eine Kugel getroffen? Nader, der Bulle, wurde von einer Kugel getroffen.“

Unter den Armen und Füßen von Nader, dem Bullen, die wie die Flügel eines Huhns beim Schlachten in der Luft wedelten, wirbelten Weizenhalme inmitten von Blut und Feuer. Als Ismail Nader, den Bullen, sah, kroch er hinter die Gartenmauer zurück und flüsterte halb ohnmächtig: „Es gibt keinen Gott außer Allah.“ Die Mutter von Sabih war wie gelähmt. Als sie Nader, den Bullen, zu Boden stürzen sah, kam sie wieder zur Besinnung. Sie ließ das Schaf los, flehte den Heiligen Ali an und rannte auf Nader zu. Golschah rief: „Bleib hier, Frau! Geh nicht dorthin, sonst du wirst erschossen.“

Die Mutter von Sabih gelangte zu Nader, dem Bullen, und beugte sich über ihn. Sie wälzte ihre Faust in seinem Blut und schlug ihm mit der Faust auf den Kopf. Mit angebrannten und blutgetränkten Ähren sammelte sie weiteres Blut auf und spritzte es auf ihre nackte Brust. Die Hubschrauber waren verschwunden. Der Panzerzug konnte dem Hinterhalt der Mudschaheddin entkommen und der Lärm der Schüsse war verstummt. Auch Nader, der Bulle, war verstummt und von den Weizengarben blieb nur eine Handvoll Asche. Schweigend bildeten die Erntehelfer und die Stoppelmädchen einen Kreis um den leblosen Körper von Nader, dem Bullen.

Nabi, der Krüppel, streckte sein Bein aus und fiel auf den Boden, als sei er von der Hüfte abwärts gelähmt. Während er blutgetränkte Asche mit seinen Händen knetete, sagte er zu Golschah: „Der arme Nader. Er ist ganz umsonst getötet worden.“

Ismail sagte: „Noch vor wenigen Augenblicken war er der Bulle ...“ Als er zu lachen beginnen wollte, spürte er einen Kloß im Hals. Seine Stimme verlor sich zwischen Lachen und Weinen. Golschah sagte: „Das ist Schicksal! Sei es eine sowjetische Kugel oder Nader, der Bulle.“

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