schreiben sich vor und nach der Machtübernahme der Taliban. Marica schreibt aus Berlin, Batool schreibt aus Kabul und dann auf der Flucht, von einem geheimen Ort im Iran und aus Rom, wohin sie evakuiert wurde.

Das Lichtfenster zur Lebendigkeit

Marica Bodrožić über Batool

Die Stimme eines Menschen, was macht sie, wie wird sie beschriftet, wenn sich Gewalt nicht nur der Welt, sondern auch der Stimmbänder bemächtigt? Ich denke an Batools Stimme zuerst, wenn ich jetzt ihren Namen schreibe. In meinem Ohr klopft sich ihr Weg ins Bewusstsein, der Weg, den ihre Stimmbänder hinter sich bringen und finden mussten – eigentlich heißen diese Stimmlippen, eine jede Stimme hat also etwas zu sagen, hat Lippen. Wir brauchen sie in unserem Hals, um sprechen zu können. Nach der Flucht aus Afghanistan hat Batool der Journalistin Dorothea Westphal aus ihrer Flüchtlingsunterkunft in Rom ein Interview gegeben: ihre Stimme – ich werde sie nie vergessen. Aufbruchsbereit ist sie. Die Tage der Flucht, die Erschöpfung, die überwundene und die neue Müdigkeit, Aufbrüche und Umbrüche, alles hat sie verzeichnet, ist aufgerieben vom unfreiwilligen Unterwegssein. Und ich höre, wie jetzt in dieser Reibung eine Art neu geformte Entschlusskraft da ist, wie sie durch die Stimme in die Welt und zu mir, zu meinem Körper und in mein Leben, vordringt, wenn Batool ihre Sätze formt. Ich lerne jetzt förmlich mit dem Ohr, dass beim Sprechen die Stimmlippen mehrmals mittig aufeinandertreffen – und eine Schwingung entsteht. Aus Tönen werden Worte. An der Schnittstelle, an der ein Klang sich formt, ist dieser Aufbruch, dieses lange Unterwegssein zu hören. Aber nicht nur das, da ist auch noch etwas anderes, eine Art Urton – Logopäden gehen davon aus, dass die Entspannung und die Tiefe der Stimme einander bedingen. Batool ist in ihrer Flüchtlingsunterkunft nach einer langen Odyssee angekommen – sie hat sich und ihre Familie nach Rom gerettet, hat darüber berichtet, was sie auf diesem Weg innerlich gestützt hat, sie selbst sagt, jede Sekunde sei dabei teuer bezahlt gewesen. Aber dennoch ist da diese Tiefe und Ruhe in ihrer Stimme und in ihren Sätzen, die mich umarmt, eine Ruhe, die mir etwas mitteilt – auch im geschriebenen Satz: „Weißt Du, Marica, ich denke, dieses Mal muss ich den Mittleren Osten wirklich verlassen, für immer.“ Dieses „für immer“ überlebt das Zittern ihrer Beine und das Rauschen ihres Blutes angesichts eines Talibankämpfers, der in Kabul mitten auf der Straße nach ihrem Sohn greift, sie schamlos, wie sie schreibt, angrinst, auf den Geländewagen hinter sich zeigt und zu ihr sagt: „Dein Sohn wird sich den Taliban anschließen, wir schicken ihn nach Pandschir, damit er dort den Dschihad unterstützt, so Gott will.“ Aber ein anderer Wille oder ein ganz anderer Gott will in ihrer Stimme etwas anderes, ein anderes Leben. Es entsteht in diesem Augenblick größter Ausgesetztheit, es entsteht in Batools unbedingter Liebe zu ihrem Kind, aus ihrem Fokus auf ihren Sohn und dem Wissen um die Freiheit, die ihr als Mensch zusteht. Diese Liebe wächst, Kairos abgerungen, in ihrer Stimme und als neu gewonnene Kraft nach und sie ist schon im Augenblick des Übergriffs das unsichtbare Bild des Lebens. Erst aber weicht aus ihrem Körper „alles Leben“. „Ich fühlte mich wie ein Schwebeteilchen. Ohne Handlungsmöglichkeiten“, schreibt Batool mir in ihrem Brief – „ohne Macht, selbst eine Richtung vorzugeben.“

Sie fand erst keine Worte in sich, bald aber macht sie eine lebensverändernde Erfahrung und beschreibt sie so: „Ich weiß nicht wie, Marica, aber irgendwie schrie ich mir innerlich zu: ‚Wach auf! Beweg dich!‘ Hier wird jede Sekunde teuer bezahlt, du darfst nicht eine davon aus der Hand geben! Und mit einem Mal ergriff ich fest den anderen Arm meines Sohnes und zog ihn zu mir. Es war, als würde ich, ganz allein, die Schwere und Entsetzlichkeit gewaltiger Meeresfluten auf mich ziehen.“ Ihr Sohn stand nun wieder an ihrer Seite und ihre Stimme konnte der Gewalt klar Einhalt gebieten. Sie sagte dem Talib, jetzt werde der Sohn nicht mitkommen, sie würde ihn aber später bringen – in ihrer Stimme formte sich der Aufbruch, der ihren Umbruch, ihr Fortgehen für immer einleitete. Die italienische Journalistin, der sie bedingungslos vertraute, half ihr bald darauf, aus Kabul wegzukommen. Sie habe entschieden, stärker als alle Gegenkräfte zu sein und zu gehen. Sie schrieb mir in ihrem Brief dazu: „Ich muss weiter, weiter, weiter. Bis ich zu einem Ort gelange, an dem ich diesem Nichtsein, diesem Nichtgewesensein, wieder ein Werden, eine Lebendigkeit verleihen, es […] mit Sinn verbinden kann. Wo ich grünen, wachsen und wurzeln kann, und das alles nicht allein, sondern mit allen meinen Kindern.“ Ein neuer innerer Raum öffnet sich für sie, den sie „Lichtfenster“ nennt, und sie schreibt mir weiter: „Ich werde ein großer Baum sein, mit starken Wurzeln, die die Erde durchziehen, so dass weder Sturm noch Flut ihn erschüttern können.“ Und diese Gedanken, diese Bilder sind Teil ihrer stimmlichen Kraft. Über Batool kann und wird noch vieles gesagt werden. Ich habe mich entschieden, über ihre Stimme zu sprechen, über diese Tiefe und Ruhe in ihr – nicht nur, weil ich sie liebe, sondern weil ich glaube, dass sie eine große menschliche und literarische Stimme unserer Zeit ist, und weil ich ihr die ganze Welt als Bühne, als Zuhörerschaft wünsche, denn die Welt braucht solche Stimmen. Als Batool sich nach unzähligen Versuchen endlich in Sicherheit befand, wurde die Ukraine von der russischen Armee zielgerichtet angegriffen. Wir alle wissen, wann das war: am 24.2.2022. Anderntags, am 25.2., gingen die Taliban durch Kabuls Straßen mit Namenslisten in den Händen und nahmen strategisch durchdachte Hausdurchsuchungen vor. Die Welt bekam (fast) nichts davon mit. Doch die Gleichzeitigkeit der schmerzlichen Ereignisse unserer Zeit fordert jeden Menschen heraus, zu einer eigenen Stimme und Empfindung zu kommen, zu einer Klarheit und Freiwilligkeit, die sich, wie Batool uns zeigt, nur am äußersten Rand des Lebens erlernen lässt. Wer sich aber gegen die Wirklichkeit sträubt, gelangt nicht zur Stimmfindung, verhindert sie in sich selbst und damit auch in der Welt. Wir sind anders betroffen als die von vielfältigen Nöten, Kriegen, Hunger und durch Verfolgung Leidenden, aber das Leben arbeitet auch in uns, es arbeitet immer im Einzelnen und versteckt sich oft im allzu lauten Plural. Das Herz und diese Erde sind schon lange kein Versteck mehr. Unser Lebensort ist das Leben und nicht das Land, die Stadt, der Pass – wie uns das Schicksal vieler flüchtender Menschen zeigt. Immer wieder komme ich dabei zu dem Gedanken, dass unser Sein in Freiheit unsere eigentliche, unsere unsichtbare und zugleich im Körper gespiegelte Identitätskarte ist. Das wissen die Zerstörungskräfte überall auf der Welt. Die Frauen in Afghanistan spiegeln uns allen das schmerzlich, da sie nun wieder ihre Gesichter und ihre Körper bedecken müssen. Menschen wie Batool lassen uns mit ihrer Stimme und auf ihre Weise davon wissen, was es bedeutet, sich auf den Weg zu machen, um dieser Gefangennahme zu entkommen. Die patriarchalen Götter leben derweil in ihrem von der Erde weit entfernten Himmel. Während ihre Handlanger sich der Gewalt bedienen, stirbt aber auch langsam das Bild der alten Herrscher und der Weg der erwachenden Frauen wird sichtbar als Lebensweg. Der Mensch ist kein Sperling. Aber der Vogel in uns weiß trotzdem, wie das wahre Leben atmet. „So bin ich, frei“, sagt Ossip Mandelstam, „wie jene Stimmen / der Mitternacht, des / Vogelschwarms.“

 

Berlin im Mai 2022