Fatema Key (Pseudonym) und Svenja Leiber schreiben sich Briefe zwischen der nordafghanischen Provinz Balkh und Berlin.
Svenja Leiber über ihren Briefwechsel mit Fatema Key
In Fatemas Haus
Ich hatte, bevor der Briefwechsel mit Fatema begann, tagelang Schwindelgefühle, den Eindruck, meine Sehkraft lasse nach, ich sei nicht bereit, nicht fähig, nicht mutig genug. Der von mir als zutiefst schmerzhaft empfundene Verrat der Welt, „meiner“ Welt, an Afghanistan raubte mir schier den Atem, und ohne Atem geht mir die Sprache aus.
Es war die Beharrlichkeit derer, die mich um die Mitarbeit an dem Projekt gebeten hatten und mir so eine vollkommen neue Erfahrung schenkten: Weiter Schreiben zwang mich gleichsam, meinen Blick auf das Geschehen zu lenken, mich dem weiter auszusetzen und in die dadurch aufsteigende Verzweiflung hineinzusprechen, zu senden, zu funken, zu flüstern, zu lauschen, einen Gang aus Fragen zu buddeln, eine Brücke aus Buchstaben zu zimmern, meine Gedanken zu zwingen, mich dieser für mich unvorstellbaren Situation der Frauen in Afghanistan, diesem totalen Zusammenbruch ihrer Hoffnungen und Aussichten zu stellen, und – trotzdem zu schreiben. Plötzlich war ich die, die eine Sprache suchen sollte, deren auch gedankliches Stottern wieder in Fluss gebracht wurde, die, trotz allem, „weiterschrieb“. Und so würgte ich gleichsam meinen ersten Brief hervor, tastete mich in Fatemas Richtung, fragte, grüßte, ohne zu wissen, wen.
Umso frappierender die Klarheit, die Direktheit, der Mut, mit denen Fatema antwortete. Wie eine Bergführerin übernahm sie die Leitung durch das unwegsame Gelände, schrieb in einem Ton, der genau die Richtung zu kennen schien, schrieb laut und deutlich aus dem Zentrum des Geschehens heraus, ohne Umschweife, ohne Formeln, wie mit der Waffe. Sie hat das Wissen und sie glaubt, bei aller Verzweiflung, an den Wert des Wissens. Sie schilderte ihre Arbeit als Lehrerin, sie schilderte die politische Situation, die Fehler, die Aufgaben, sie schien mit einer riesigen Fahne über die Berge zu winken und zu rufen: Wir werden lernen! Wir werden eine Zukunft haben! Wir werden die sein, die am Ende in den befreiten Straßen tanzen!
Ich habe mir ihren letzten Brief mehrfach laut vorgelesen. Ich bin in die Küche gegangen, habe einen sehr schwarzen Kaffee gekocht und ihn in Gedanken mit Fatema getrunken. Und dazu eine Zigarette geraucht: Ja, Du bist die Zukunft, Fatema. Und Deine Worte und Gedanken sind real. Sie sind Dein Haus, das kein Taliban zerstören kann. Und ich durfte einen Vormittag lang bei Dir wohnen. Komm in mein Haus, wenn es Dir guttun kann, wenigstens in Gedanken.
Die Tür ist jetzt offen.
Einige Monate später erhielten wir die Nachricht, dass jegliche höhere Schulbildung für Mädchen in Afghanistan verboten worden war.
Wie geht es nun weiter?
Ich sitze in der Küche und umklammere in Gedanken zwei Briefe.