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Reisen

Wafa Mustafa
Übersetzung: Heike Geißler
Foto: Wafa Mustafa / Das Denkmal für die ermordeten Juden Europas, kurz Holocaust-Mahnmal in Berlin.

Vor sechsundzwanzig Jahren benannte mich mein Vater nach einer palästinensischen Nachrichtenagentur. Das hat mich geprägt und die gesamte Identität, die ich mir später aufbaute, vorgeformt. Als ich größer war, machte sich mein Vater zu einer Reise auf, die auch meine wurde und zu der es gehörte, über fast acht Jahre hinweg jede Woche vier Stunden in die Hauptstadt Damaskus zu fahren, um dort an den Protesten zur Unterstützung der „palästinensischen Sache“ teilzunehmen. Als mir 2011 bei einem der Proteste ein Offizier des syrischen Geheimdienstes ins Gesicht schlug und mich anschrie: „Du Palästinenserin solltest dich nicht in syrische Angelegenheiten einmischen“, nahm meine Reise eine neue Wendung. Der Grund für die Ohrfeige war meine Kette mit einem Anhänger in der Form Palästinas, die ich damals schon seit zehn Jahren trug. Nach diesem Tag musste ich den Anhänger abnehmen.

Als Syrerin wuchs ich mit der „palästinensischen Sache“ und all ihren Details und Fortschreibungen auf; der Holocaust und die Erinnerung an ihn fanden kaum jemals Erwähnung. Als ich in Deutschland ankam, war ich hingegen mit der alltäglichen Gegenwart des Holocaust konfrontiert. Da ich der „palästinensischen Sache“ eng verbunden war, fand ich mich oft verwirrt über den Holocaust wieder und hatte Angst, die Mahnmale zu besuchen.

Vor zwei Monaten war ich dann zum ersten Mal am Holocaust-Mahnmal in Berlin-Mitte. Nachdem ich sieben Stunden dort verbracht hatte, ging ich noch verwirrter, als ich es vorher schon gewesen war. Ich war nicht nur schockiert von dem, was ich gesehen hatte, sondern auch von meinen eigenen Gefühlen.

Die Geschichte, die ich erzählen möchte, begann im Raum der Namen wie er im Ort der Information benannt wird. Auf den großen weißen Leinwänden sah ich Namen erscheinen und wieder verschwinden. Ich hörte die Geschichten, die zu den Namen gehören. Manche Namen hatten Geburts- und Todesdaten, andere nicht. Aus irgendeinem Grund ging ich nur mit dem Namen von Matka Farbe aus dem Raum, deren Geschichte weder viele Details noch irgendwelche Daten hatte.

Zwei Tage später besuchte mich eine vierzigjährige Frau in meinem Traum. In einem wunderschönen langen Kleid, die Haare zusammengebunden, sah sie mich an, lächelte und schwieg. Ich wusste, dass sie das war. „Wann kamst du zur Welt und wann bist du gestorben?“ Ich wiederholte dieselbe Frage wieder und wieder. Matka antworte nicht. Sie sah mich einfach weiter an, lächelte ohne etwas zu sagen.
An diesem Tag erwachte ich mit einer anderen Angst und so vielen Fragen, die mit jedem Mal, das Matka in meinem Traum erschien, komplizierter wurden. Warum kommt sie zu mir? Warum schweigt sie immer? Warum stelle ich ihr immer dieselbe Frage? Daten? Zahlen?

Seit mein Vater im Juli 2013 vom syrischen Regime verhaftet wurde, zähle ich die Tage seiner Abwesenheit. Ich weiß nicht genau, warum oder wie ich diese Entscheidung getroffen habe, was ich aber weiß, ist, dass ich seit seiner Verhaftung von Zahlen besessen bin. Der Umstand, dass ich, wenn mein Vater im Gefängnis sterben würde, nicht einmal seinen Todestag erfahren würde, macht mich nur noch empfindlicher. 1373 Tage sind vergangen, seit er aus der Welt, die ich kenne, verschwand. Immer wieder besucht er mich seitdem in meinen Träumen. Meistens sitzt er einfach nur da, betrachtet mich und schweigt lächelnd. Ist es ein Zufall, dass Matka auf genau dieselbe Art in meinen Träumen erscheint? Was bedeutet das? Wer ist sie? Ist sie mein Vater? Aber sie ist tot! Soll das bedeuten, dass mein Vater auch tot ist! Ist es das, was sie mir zu sagen versucht!

Diese Vorstellung konnte ich nicht verkraften. Ich musste nach Matka suchen und diese Beziehung zwischen ihr, meinem Vater und mir verstehen. Ich googelte ihren Namen. Ich tippte Matka Farbe. Sie existiert nicht bei Google. Also beschloss ich, die Gedenkstätte zu besuchen, um mir ihre Geschichte noch einmal anzuhören. Ich ging also hin und wartete eine Weile im Raum der Namen. Wieder hörte ich vielen Geschichten zu, aber Matka tauchte nicht auf. Ich habe überall nach ihr gesucht. An jeder Wand, in jedem Bild, in den Gesichtern der herumgehenden Leute, in den Geräuschen, die das Versteckspiel der Kinder zwischen den Stelen erzeugte. Ich konnte sie nicht finden. Letztendlich ging ich zum Buchladen im Ort der Information und erkundigte mich nach ihr. Man sagte mir, dass niemand wisse, wann ihr Name wieder erscheinen werde und dass ich, wenn ich alle Namen anhören wollte, dafür sechs Jahre, sieben Monate und 27 Tage brauchen würde. Ich war überrascht, aber vor allem enttäuscht. Ich hatte das Gefühl, sie verloren zu haben. Aber das konnte ich nicht akzeptieren. Ich fragte, ob man mir helfen könnte, sie zu finden. Man fragte mich nach ihrem Namen. „Matka Farbe“, sagte ich. „Dieser Name existiert nicht“, sagten sie. Anscheinend lautete ihr Name Małka Farbe, mit ł statt mit t. Es ist ein polnischer Name, er wird Mauka ausgesprochen. Man gab mir ein Blatt mit den Informationen, die die Gedenkstätte zu ihr gesammelt hat. Es wird angenommen, dass sie sechs Jahre alt war, als sie starb. Sechs Jahre! Aber die, die ich in meinen Träumen sah, war älter, viel älter! Ich machte mir Vorwürfe, nicht gewusst zu haben, dass sie noch ein kleines Kind gewesen war. Aber plötzlich veränderte sich alles. Ich verstand, dass ich Małka war. Sie war das Kind in mir, das ihrem Vater in seiner Abwesenheit schrieb.

Während du weg warst, bin ich nicht erwachsen geworden.
Ich habe die Geduld nicht verstanden, das Warten nicht erlernt.
Ich bin dieses Mädchen voll von Bildern.
Hinter dem Fenster lebend und überrascht von der Frage:
Wie konnte die Morgenröte von einer Panzerfaust getötet werden?
Es ist die schmerzensreichste Zeit, Vater.
Kurz vor Mitternacht, vor einem weiteren Tag deiner Abwesenheit, lassen mich mein Herz und meine Seele im Stich.
Mit der Traurigkeit eines sechsjährigen Kindes überlege ich:
Hat die Dunkelheit deine Augen und dein Lächeln verändert?
Diese Welt hört nicht auf, sich in meinem Kopf zu drehen!
Mir wird eng in der Brust, der Schmerz wächst.
In mir ein trauriges Kind, mit Angst vor der Zeit und weiten Fenstern.
Wie ich starrt sie unablässig an die hohe Decke und weint die Stimme eines Vaters.
Sie versteht nicht, dass er weg ist.
Ach Gott, ich bin erschöpft von dem sechsjährigen Kind
und ohne Erfolg versuche ich, auch sie heute Nacht schlafen zu lassen.

Am Anfang dieses Teils meiner Reise war es mein Ziel, den Holocaust zu erforschen, aber weil ich Małka begegnet bin und sie in meinen Träumen zu erscheinen begann, begriff ich, dass ich mich selbst erforschte.

„Es ist geschehen, und folglich kann es wieder geschehen: darin liegt der Kern dessen, was wir zu sagen haben“, sagte Primo Levi, der den Holocaust überlebte und 1987 starb. Seine Biographen nehmen an, dass er den Freitod wählte. Das lässt in mir noch mehr Fragen aufkommen. Überleben wir wirklich? Habe ich überlebt, indem ich mein Zuhause verließ und dort nicht getötet wurde? Werde ich je wissen, ob ich überlebt habe?

 

Der Text gehört zu einer Video-Installation, die am Bard College Berlin in einem Kurs zur deutschen Migrationsgeschichte erarbeitet wurde, und wurde zuerst in der Kolumne „10 nach 8“ auf Zeit Online veröffentlicht.

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