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Ohne Mama

Tanya Skarynkina
© Vasilisa Palianina, Acryl auf Papier (2022)

 

Falling in love again
never wanted to.
What am I to do?

 

Am Tag nach Mamas Tod schaute ich Filme an. Zur Rettung vor der Leere, die an dem Ort entstanden war, an dem gestern noch Mama war. Der erste Film auf der Liste war „Ladies Should Listen“ mit dem jungen Cary Grant. „Meine Damen, zugehört!“ Ich höre.

„Falling in love again“, trällert Cary Grant, während er sich die Krawatte bindet.

Die Melodie klingt bekannt, doch das Lied fällt mir nicht ein. Immer wieder spiele ich die Krawattenszene ab, bis mir „Der Blaue Engel“ einfällt, wo Marlene Dietrich dieses Lied singt.

Ich bin von Kopf bis Fuß
auf Liebe eingestellt.

Mama hat ein langes Leben gelebt.
Sie hat es ausgelebt, kann man sagen. Das Lied ist auf Englisch wie auf Deutsch berührend. Aber die deutsche Interpretation geht mir stärker unter die Haut, weil Mama, erstens, Marlene Dietrich liebte, und, zweitens, Deutsch in der Schule gelernt hatte. Ich habe mich darauf eingestellt, Mama nach ihrem Tod zu lieben, denke ich dem Lied hinterher, und unwillkürlich werden meine Augen feucht, nehmen mir die Sicht auf den Film mit Cary Grant aus dem Jahr 1934. Mamas Geburtsjahr. Die Kehle zieht sich zusammen. Nach dem Film mit Cary Grant schaue ich „Der Blaue Engel“, noch einmal, aufmerksamer. Auch dort lassen mir Kleinigkeiten, auf die ich vorher nie geachtet habe, keine Ruhe.

Da trinkt Professor Immanuel Rath Kaffee.
Seine Kaffeekanne ist genau die gleiche wie die, die Mama aus Polen mitgebracht hat, made in GDR. DDR. Deutsche Demokratische Republik. Für sechs Personen. Aus Porzellan, fein wie Eierschale. Als Marlene geboren wurde, hieß ihr Heimatland DR: Deutsches Reich. Oder Zweites Reich. Oder Germanisches Imperium. Nach dem erfolgreichen Debüt im „Blauen Engel“ wanderte Marlene nach Amerika aus. Sie kehrte nach ihrem Tod zurück nach Berlin, um dort begraben zu werden, drei Kilometer von ihrem Geburtshaus im Stadtteil Schöneberg entfernt. Mama wurde auf dem Friedhof ihres Heimatdorfes Perawosy begraben. Vom Dorf zu dem Haus, in dem Mama starb, sind es genau drei Kilometer.

Ich habe die deutsche Kaffeekanne aus Polen aus Versehen zerschlagen.
Mama habe ich das nicht gesagt. Sie hatte für das Service das gesamte Bargeld ausgegeben, das sie auf die Reise mitgenommen hatte. Deshalb hatte ich nicht den Mut, es zuzugeben, denn ich bin unfähig, Kaffeeservice vom letzten Geld zu kaufen wie Mama. Wie Mama Strümpfe mit einem Hüftgürtel tragen, das kann ich auch nicht.

Frühjahrsferien.
Durch einen Spalt unter der Bettdecke hervor beobachte ich Mama. Wie sie die Strümpfe am Gürtel befestigt, mit Hilfe spezieller Eisenösen. Wartet diese Qual auch auf mich, wenn ich älter werde? Marlene hatte lange Beine. Ihr ganzer Stolz. Mama hatte zu ihrer Zeit keine schlechteren. Ich habe mehrfach Menschen über Mamas Beine sagen hören, dass niemand in der Stadt solche hatte, selbst ihre Schwestern stimmten zu, dass ihre Figur makellos war, und Mama wusste das.

Ich schaue „Der Blaue Engel“, deutsche Variante.
Synchronisiert, dabei wäre es gut, Deutsch zu lernen.
Jede Kleinigkeit erinnert an Mama. Die Strümpfe der Heldin Marlene – der ungenierten Lola-Lola – klemmen am Hüftgürtel, wie Mamas, so dass zwischen dem Gürtelende und dem Anfang des Seidenstrumpfes die Haut hervorschaut. Diese Strümpfe waren zur Zeit des „Blauen Engels“ in Deutschland gerade erst auf den Markt gekommen. Marlene hat sozusagen Reklame für sie gemacht, dank ihrer Beine und ihrem schauspielerischen Talent. Und Mama war, kann man sagen, eine der Letzten, die noch solche Strümpfe trugen. Die eine begann die Epoche der Strümpfe in den Dreißigern, die andere beendete sie in den Achtzigern. Ein halbes Jahrhundert dauerte diese, auf ihre Art verrückte, Mode. Ist das viel oder wenig?

Nach der deutschen nehme ich mir die englischsprachige Version vor.
Nicht den ganzen Film, nur das Lied, das Lola-Lola, mit Zylinder auf dem Fass sitzend, singt. Scheint es mir nur so oder sieht die Szene wirklich anders aus? Ich schaue wieder in die deutsche Version. Sie unterscheiden sich wirklich, die deutsche und die englische Variante. In der deutschen breitet Marlene zum Beispiel ihre Arme weit aus, die Kamera filmt sie ganz nah. In der englischsprachigen Variante ist die Schauspielerin nur in der Totale zu sehen. Mit den Händen hält sie die ganze Zeit ihre langen Beine fest, die an das Fass gepresst sind. Viel zurückhaltender im englischen Film, nicht so sinnlich. Das Gesicht ist ernst. In der deutschen Variante ist es fröhlich. Das bedeutet, dass der Film zwei Mal, in zwei Sprachen gedreht wurde. Für die Hollywoodkarriere die englische Version. Der erste Tonfilm der Schauspielerin, die erste Hauptrolle. Marlene selbst winkt im Interview bei der Frage nach dem Film nur ab.

„Schauen Sie manchmal Ihre Filme an?“
„Nein, nie. Interessiert mich nicht. Mich selber da ankucken? Nein, nein, wirklich. Schauen Sie mal, mit dem ‚Blauen Engel‘, ich meine, der kommt einem doch zum Halse raus, nicht? Ich kann das ja schon gar nicht mehr hören. ‚Ich bin von Kopf bis Fuß …‘ – lächerlich.“

Ich bin von Kopf bis Fuß
auf Liebe eingestellt.

Mit über achtzig kritisiert Marlene in Maximilian Schells Dokumentarfilm ihre schauspielerischen Fähigkeiten. Das lässt sich mit Neid auf die eigene jugendliche Schönheit erklären. Mama blickte nicht neidisch auf ihre eigene Jugend. Sie liebte sich als junge Frau. Wie oft setzte ich mich mit Fotografien zu ihr. Mama nimmt die Lupe. Ich schalte das Diktiergerät ein. In gewissem Sinne hatten wir beide Glück, einander zu finden: eine Erzählerin, wie ich kaum eine kenne, und eine Zuhörerin, besessen vom ihr unzugänglichen Leben in Mamas Jugendzeit. Ich kenne nicht viele Menschen, die sich so aufrichtig und gern an sich selbst in jungen Jahren erinnern. Wenn ich jemanden beneide, dann eher die, die viel älter sind als ich. Die noch die Pflastersteine auf der Chaussee erlebt haben. Auf dem Foto hält sich Mama tapfer auf dem holprigen Pflaster in ihren Pumps. So wie Marlene im Film „Entehrt“, als sie wegen Spionage erschossen werden soll, aber nur ein Lächeln übrighat, sich die Lippen mit grellem Lippenstift nachzieht, mit der Säbelklinge des Begleitpolizisten als Spiegel. Im Interview erzählt sie, dass sie ihren Regisseur Joseph von Sternberg gefragt hat:
„Wenn die da schießen, wie fällt man denn? Nach vorne oder nach hinten?“
„Sie sind doch Schauspielerin. Vertrauen Sie auf die Intuition.“
„Aber ich bin ja noch nie erschossen worden.“

Sie ließ sich nach vorn fallen.
Und als ich in Mamas Zimmer ging. Lag sie mit dem Gesicht nach unten. In der Nacht aus dem Bett gefallen. Und nie wieder aufgestanden. Ich setzte Mama auf. In Mama ächzte etwas. Ich fasse ihre Schulter: „Mama.“ Mama ist kalt.

Als die Notfallsanitäterinnen schon gehen wollten, nachdem sie „natürlichen Tod aus Altersgründen“ festgestellt hatten, fragte ich nach, ich konnte nicht glauben, dass alles so plötzlich zu Ende war:
„Ist Mama wirklich tot?“
Sie schauten mich an, als sei ich verrückt. Gaben keine Antwort.

Ich habe Mama sieben Jahre lang gepflegt.
Mama lief nicht mehr, ihre Hüfte war kaputt, Oberschenkelhalsbruch, ein häufiges Leiden im Alter über siebzig. Aber Mama versorgte sich fast vollständig selbst. Sie legte sich hin, setzte sich auf, kämmte sich, schnitt sich die Nägel, aß. Ich musste nur einkaufen, kochen, servieren, das schmutzige Geschirr in die Küche tragen, abwaschen, Mama baden, Wäsche waschen. Zu tun war genug, wegfahren war ein Problem, selbst für einen Tag. Ich dachte, wenn Mama einmal stirbt, atme ich erleichtert auf.
Ich hatte mich geirrt.

Es gibt eine alte Fotografie, auf der mehr als irgendwo sonst die Zeit vor meiner Geburt festgehalten ist. Meine kleine Cousine Walja-Waljuschka, Mamas Namensvetterin, mit einem Kätzchen, und Mama mit dem Abzeichen „Hervorragende Arbeit in der Staatsbank“ haben es sich auf dem Sofa gemütlich gemacht. Dazwischen sitzt Waljuschkas Schwester, die um einige Jahre ältere Marynka, mit einem Birkenzweig, an dem Lämmerschwänzchen hängen. Das Foto wurde immer und immer wieder angeschaut, und doch ist es nicht weniger geheimnisvoll geworden. Alle drei lachen, aber nicht in die Kamera. Der Fotograf scheint für sie nicht zu existieren. Sie haben ihre zärtliche, liebevolle Geheimwelt. Mama kümmerte sich um meine Cousinen, bevor ich auf der Welt erschien. Ich kam ihnen dazwischen. Habe alles kaputtgemacht. Jetzt nenne ich sie nicht mehr laut Waljuschka und Marynka, nur für mich selbst. Etwa aus dieser Zeit stammt auch die Geschichte von Mamas Verehrer, von der ich erst erfuhr, als ich schon dachte, alles über alle ihre Verehrer in Erfahrung gebracht zu haben. Marynka und Waljuschka kommen auch in der Geschichte vor. Am Rande.

Es ist eine Neujahrsgeschichte, die Mama mir einen Monat vor Silvester erzählte, das sie dann um zwei Wochen nicht mehr erlebte. Es war Sonntag, wir aßen zusammen zu Mittag und alles war so feierlich, dass Mama ohne Anlass „ein Gläschen“ vorschlug. Selbstgebrannter war auf Vorrat da. Und schon belebte er das Gespräch. Im Fernseher jagte ein Leopard eine Giraffe. Mama erzählte:

„Er forderte mich zum Tanz auf. Wir tanzten einen Tanz, dann ging er fort. Groß war er, akkurat frisiert. Etwa eine Woche später forderte er mich wieder auf. Er sagte: ‚Ich möchte dich meiner Schwester vorstellen.‘
Wann und wo, das sagte er nicht. Nun gut. Dann kam Neujahr. Ich feierte mit Freundinnen und ging zum Übernachten zu meiner Schwester Janja. Irgendwann um drei Uhr nachts klopft es. Ich werfe mir den Eisenbahnermantel von Janjas Mann über. Barfuß gehe ich zur Tür. Mit kalten Füßen frage ich: ‚Wer da?‘
Das war er. Betrunken, es war ja Neujahr. Hab ihn nicht reingelassen. Die Schwester und ihr Mann, die Kinder, Waljuschka und Marynka, alle schliefen. Wie sollte ich ihn da reinlassen? Und er ging wieder. Am nächsten Tag erzählte mir meine Freundin Ljodsja, die seine Nachbarin war – von ihr hatte er auch erfahren, wo er mich findet –, dass er bei der Agrartechnik gekündigt hat. Den Posten des leitenden Ingenieurs. Und die Stadt verlassen.“
„Für immer?“
„Ja!“
„Mama, du bist ein Vamp!“

Der Leopard fraß die Innereien der Giraffe.
Mama lachte. Mama starb eine Woche vor Weihnachten, ihrem Lieblingsfest. Ich hatte es noch geschafft, auf ihren Wunsch eine Oblate zu besorgen. Aber sie konnte die spröde Speise ohne Geschmack und Geruch nicht mehr kosten. Und ich aß auch nicht ohne Mama. Heiligabend feierte ich nicht. Nur eines hielt ich nicht aus und machte sie doch, die Kringel (man kauft sie, fügt gemahlenen Mohn hinzu, übergießt alles mit heißem Wasser und lässt es einige Stunden stehen). Drei Tage lang aß ich nur Kringel und spürte nichts beim Schlucken der in süßem Mohnwasser aufgeweichten, an Maikäferlarven erinnernden fettigen Teigstücke.

Mama wurde in meinen Lackschuhen beerdigt, die beim Laufen drückten.
Sie waren unbiegsam, wie umgearbeitete Skischuhe. Und als es Zeit war, Mama im Sarg Schuhe anzuziehen, holte ich die schwarzen Lackschuhe hervor. Ich habe sie vielleicht zwei Mal getragen. Und Mama in ihnen beerdigt. Den Ehering nahmen wir Mama nicht ab. Beerdigten sie mit ihm. Er war auch Omas Ehering gewesen. Mama hatte mir einmal die Gravur mit dem Hochzeitsdatum ihrer Eltern auf der Innenseite des Rings gezeigt. An den Tag erinnere ich mich nicht, aber es war das Jahr 1928. So eine Verbindung der Generationen, dass Mama in den Schuhen ihrer Tochter und mit dem Ring ihrer Mutter ins Jenseits begraben wurde. Damit wir einander erkennen: Mamas Mutter ihre Tochter, meine mich, und ich sie beide. Die Verbindung darf nicht abreißen, auch ich sollte etwas von Mama mit in den Sarg nehmen.

Ich werde mein Lieblingsfoto von Mama mitnehmen, male ich mir aus, statt eines Bildes von Jesus, das Katholiken üblicherweise den Toten in die Hände legen, wie eine Zugangskarte in die andere Welt. Mama ist auf dem Foto zwanzig Jahre alt, sie arbeitet schon bei der Bank. Sie hat gerade die Tür geöffnet. Die Wand des Gebäudes ist weiß. Das Bild ist schwarzweiß, aber ich habe die Farben erfragt: Die Tür ist blau, der Pullover fliederfarben, Mamas Lieblingsfarbe. Ich habe das Foto abgezeichnet und nach der Beschreibung farbig ausgemalt.

Wir beerdigten Mama in einem fliederfarbenen Kleid.
Ich hatte nicht geahnt, dass es heutzutage in Bestattungsgeschäften eine Farbauswahl gibt. Nicht nur Schwarz und Braun. Ich wählte Mamas geliebtes, sattes Flieder. Von allen Blumen und Pflanzen mochte Mama Flieder am liebsten. Das Kopftuch für den Sarg wählte ich in zartem Lila. Ich war stolz, dass ich Mama wie ein Püppchen ausstaffiert hatte. Die ältere Tante sagte, sie wolle genauso gekleidet werden.

Als Mama starb, taute es.
Unbeständig sind die Winter. Der Boden gab unter den Schaufeln der Totengräber leicht nach. Alle ringsum fanden, dass Walja gelungen gestorben war – der Boden war weich. Einer der Totengräber fiel in die Grube. Alle konnten gerade noch an sich halten, statt loszuprusten. Am nächsten Tag war wieder Frost. Sie hatten recht gehabt, die auf dem Friedhof gesagt hatten, dass es ein Glück sei, im Weichen beerdigt zu werden. Doch als der Dezemberfrost kam, setzte sich der Gedanke fest, dass Mama dort unten friert. So oft hatte sie mir ihren Wolfspelzmantel angeboten, der bis zu den Füßen reichte. Er war schwer, als hätte man vergessen, den Körper des Wolfes zu entfernen. Niemand brauchte diesen Pelz jetzt mehr. Man müsste Mama mit dem Pelz zudecken. Der Gedanke daran lässt mir keine Ruhe.

Nur Vetter Wowa wusste, wo Mama vergraben werden wollte.
Auf dem Hügelchen neben ihrer Tante Genja. Genowefa. Dort stand ein mit Moos bewachsenes Postament. Erst am Tag von Mamas Tod sagte Wowa: „Das ist kein richtiger Grabstein, nur der alte von der Großmutter. Als Großmutters Stein erneuert wurde, hat Tante Walja darum gebeten, den alten für sie dazulassen, um den Platz zu sichern.“ Und dorthin legte sich Mama, wie sie es vorhatte. Neben einen Erdbunker aus dem Ersten Weltkrieg.

Am Tag von Mamas Tod aß ich nichts.
So viele Dinge gibt es zu regeln mit einem Verstorbenen, durch die Plötzlichkeit des Todes nimmst du es nicht wahr. Auf dem Rückweg vom Friedhof sagte ich, an niemanden gerichtet: „Nichts gegessen heute.“ Dabei war es schon vier Uhr nachmittags. Wowa sagte: „Halinka ist gekommen, sie macht gerade Krautrouladen.“ Halinka ist Wowas Schwester, meine Cousine. Wir aßen zu viert: Tante Jadsja, Wowa, Halinka, ich. Sie sagten kein Wort über Mama. Ich war es, die als Erste von Mama anfing. Ich sagte, dass man nun bei niemandem mehr nachfragen kann, von niemandem mehr erfährt, was Mama wusste.
„Vielleicht weiß ich ja was“, sagte Halinka da.
„Weißt du noch, Halinka, wie du von dem Geschichtslehrer erzählt hast, den sie Goebbels nannten?“
„Weil er immer ganz schwarz gekleidet war. Schwarzer Ledermantel, schwarze Aktentasche unter der Achsel, einen schwarzen Pobeda fuhr er. So ein buckeliges Auto. Und er hatte so eine Mütze, wie eine Pilotenmütze aus Schafsfell.“
„Pirogge“, sagte ich.
„Pirogge?“, musste Halinka lachen.
„Die Mütze heißt Pirogge. Die Mitglieder des sowjetischen Politbüros trugen solche.“
„Seine Pirogge war auch schwarz“, ergänzte die Cousine.
„Einmal im Unterricht“, fuhr die Cousine fort, „bat einer der Schüler diesen Lehrer, etwas über Goebbels zu erzählen. Er erzählte ganz ruhig. Als wüsste er nichts von seinem Spitznamen. Vielleicht wusste er es wirklich nicht.“
Da sagte die Tante: „Wowa hatte auch so eine. Aus weißer Astrachanwolle.“
Die Tante erzählte, dass Wowa diese Piroggenmütze von Mama bekommen hatte. Als es kälter wurde, setzte sie sie ihm auf. Er ging in die erste Klasse, wusste nichts von Mode.
Wowa ergänzte: „Ich war gerade in den Bus eingestiegen, da lagen schon alle vor Lachen. Ich hab die Mütze abgenommen. Und nie wieder getragen.“
„Und was ist mit der Mütze passiert?“
„Irgendwo weggeworfen“, antwortete Tante Jadsja.

Ich glaube, ich weiß, warum Mama die Mütze loswerden wollte.

Es hat nichts Modisches an sich, den Regierungsmitgliedern zu ähneln. Selbst, wenn es nur eine Piroggenmütze ist. Wowa sagte später, dass ihm die Mütze irgendwie sogar gefallen hat, aber was würden die Leute denken? Mama hat das nie gekümmert.

Einmal im Sommer kam ein starker Regenguss.
Wir gingen gemeinsam durch die Stadt. Ich war vielleicht elf. Mama hatte keinen Regenschirm mitgenommen, auf dem Kopf die frisch gelegte Ondulierung. Mit der Gleichgültigkeit eines Mannequins holte Mama eine Zellophantüte hervor und zog sie sich über den Kopf. Ein Beutel von irgendeinem ausländischen Kleidungsstück. Eine Haube, hart wie Glimmer. Wladimir Odojewski, Autor des Märchens „Das Städtchen in der Spieldose“, das ich völlig zerlesen habe, trug stets eine riesige Haube, ich weiß nicht mehr, warum er sich nicht an die Mode des 19. Jahrhunderts hielt. Wahrscheinlich eine Art Ergebenheit an die Märchenwelt. Es störte ihn nicht, dass alle mit dem Finger auf ihn zeigten. Auf Mama gerichtete Finger sah ich nicht, aber Scharen davon waren in meinem Kopf, daher ging ich auf Abstand. Als würde ich Mama nicht kennen. Als würde Mama mich nicht kennen. Sie aber schritt mit unverändert geradem Rücken schnurstracks voran. Würdevoll schob sich die Tüte über die Passanten hinweg. Es tropfte auf Mamas sonnenverbrannte Schultern im offenen Trägerkleid herunter. Sie bemerkte es nicht. Ich krümmte mich vor Scham.

Mama war ein Modefreak.
Ich weiß nicht, wie sie über ihr Totenkleid gedacht hätte. In Gedanken habe ich sie um Rat gefragt, als ich es auswählte. Unser letztes Livegespräch drehte sich auch um Kleidung. Ich wunderte mich ja immer, dass Mama, wann immer ich mit ihr redete, jedes Mal Neues, und nicht einfach Neues, sondern unglaublich Interessantes aus den Tiefen ihres Gedächtnisses hervorkramte. Zum Beispiel über das Kleid, das sie auf einem Foto aus ihrer Jugend trägt, sie steht am Neujahrstag neben dem Tannenbaum bei ihrer Schwester Janja. Mama ist etwa zwanzig Jahre alt. Ich habe für mich beschlossen, dass es das Neujahrsfest nach der Nacht ist, in der der leitende Ingenieur die Stadt verlassen hat. Als sei nichts geschehen, hat Mama sich am Tag darauf schick gemacht. Ein Schnitt aus Hollywood. Ich frage sie nach dem Kleid. Mir blieb schlicht der Atem weg, als Mama umgehend so detailliert antwortete, als würde sie vom Blatt ablesen. Das letzte Mal in ihrem Leben:

„Ich hatte teuren Stoff gekauft, weich und schwer. Das Kleid nähte die Barouskaja, eine gute Schneiderin. Sie hatte zwei Töchter. Die Jüngere heiratete den Direktor des Filmtheaters, die andere ging nach Polen. Der Direktor des Filmtheaters, das war damals dieser Jankouski. Die Tochter, die ihn heiratete, war sehr schön. Ich erinnere mich an sie beim Tanzen. Die Barouskaja hat mir nur ein Kleid genäht, es war nicht billig, bei ihr nähen zu lassen, sie war Meisterin. Den Schnitt dachten wir uns zusammen aus. Es saß sehr schön, legte sich leicht um die Figur. Unten glockenförmig. So ein Gefühl, weißt du, du ziehst es an, und es ist deins. Dazu kaufte ich Sandalen aus dem Import. Von hier gab es keine zu kaufen, alles nur Kunstleder. Natürlich, wir hatten es schwer – nichts im Laden, nichts in der Tasche. Das Kleid war ganz schwarz, wie Kohle.“

Der größte Baum im Stadtzentrum, gegenüber der ersten städtischen Schule, wurde gefällt, kurz nachdem Mama weg war. Buchstäblich am nächsten Tag. Mamas Tod hatte mich völlig überrollt. Sonst hätte ich mich wegen des Baumes sehr aufgeregt. Aber so schenkte ich der Weide nicht einmal Beachtung, als ihr abgesägter Stamm schon auf den Traktoranhänger geladen wurde. Mehr beeindruckte mich ein kleiner Junge, der auf den breiten Stumpf sprang und zu tanzen begann. Der Junge und alle anderen kleinen Jungen werden sich nie vorstellen können, wie diese Weide war. Sie haben nichts mit ihr zu tun. Und sie werden nie erfahren, wie Mama war. Was interessiert sie das. So viel ich auch über Mama schreibe, sie werden nie einen Bezug zu ihr haben. Welchen Sinn für Humor sie hatte. Selbst dann, wenn sie gar nicht scherzen wollte.

Einmal hörte ich aus Mamas Zimmer die wundersamen Töne seltsamer Orgelmusik.
Die melodischen Klänge Oleg Karawaitschuks sind unverwechselbar. Damit beginnt Witalij Melnikows Film „Die Heirat“ nach Gogols Theaterstück. Es kommt selten vor, aber ich bin neidisch auf den Fernseher. Habe „Die Heirat“ noch nie in so guter Qualität gesehen. Mama sieht an den ersten Bildern, dass es um die Vergangenheit geht:
„Das war eine Zeit …“
„Wie meinst du das?“
„Pferde, Schlitten, die Kleider … Jetzt tragen alle nur Jacken.“
Sie stocherte mit der Zahnbürste im Mund, es war nach dem Abendessen.
Dann fügte sie erläuternd hinzu:
„Gesteppte.“

Meine kleine Kinderdecke habe ich nach Mamas Tod auf den Müll gebracht.
Mama hatte sie unter sich platziert, um es weich zu haben. Ich erinnere mich nicht an sie in meiner Kindheit, aber das Muster hatte immer etwas Vertrautes: Vöglein fliegen in Reihen, Kätzchen laufen darunter. Die Kätzchen achten demonstrativ nicht auf die Vöglein. Auf einer Seite der Decke ist der Hintergrund himmelblau, die Vöglein und Kätzchen entsprechend weiß. Auf der Rückseite – himmelblaue Kätzchen und Vöglein auf Weiß. Einen Tag später dachte ich, man könnte die abgenutzten Ränder abtrennen und zur Erinnerung einen Vorleger daraus machen. Ich konnte mich gerade noch davon abhalten, die kleine Decke zurückzuholen.

Das Himmelblau der Kinderdecke war eine der selteneren Farben der Natur und der Haute Couture.
Mama hatte ein Kleid mit Blumen in demselben Himmelblau darauf. Ich bat Mama, sich an das Kleid zu erinnern. Mama beschrieb sofort, wie immer, als würde ihr jemand eine fertige Erinnerung vorhalten, das Kleid und ihr Äußeres dazu:
„Verstehst du, ich denke nicht, dass ich eine Schönheit war, aber trotzdem schauten sie mir nach. Mein Gesicht war nicht schön, dafür war ich gut gebaut. Nicht sofort, aber später fand ich heraus, dass die Schuhe und die Kleidung gut gewählt sein müssen. Ich erinnere mich, wie ich einmal im Sanatorium war, in Ljotzy bei Wizebsk. Ich ging mit der Zimmernachbarin spazieren. Sie sah aus wie Pugatschowa, mein lieber Gott. Und ich trug dieses braune Kleid aus Chinakrepp.“
„Schokoladenbraun mit himmelblauen Blumen.“
„Ja.“
„Mein Lieblingskleid an dir.“
„Die Sandalen waren auch braun, Ton in Ton. Geschlossene Ferse, niedriger Absatz. Wir gingen also und gingen. Die Männer: alle krank, nach Herzinfarkten. Doch auf einmal winkten uns Bekannte aus Smarhon. Was für eine Freude, die Eigenen zu treffen, wenn du fern von zu Hause bist, gute Bekannte zu sehen. Bei ihnen saß auch ein unbekannter Mann. Wir unterhielten uns und gingen zum Tanz, und dieser Unbekannte forderte mich auf. Groß war er. Aber dann, woher auch immer, kam noch ein Kavalier zu mir, und was für einer. Wie der gekleidet war, gepflegt! Wollte und wollte nicht weggehen. Und da bin ich mit dem ausgegangen.“
„Mit dem Kavalier?“
„Mit dem Kavalier.“
„Aber der Unbekannte hat dir besser gefallen?“
„Mit ihm ist es ja nichts geworden. Ein Tanz, das war’s. Erst am Ende der Kur spazierte ich wieder mit der Nachbarin. Er blieb stehen, grüßte und sagte:
‚Du weißt gar nicht, wie sehr du mir den Urlaub verdorben hast.‘“

Ich sehe Mama an, dass sie ihm ein wenig nachtrauert.
Selbst schuld, wenn sie den Männern mit ihrem Aussehen den Kopf verdreht. Zum Frisieren fuhr sie bis nach Vilnius.
„Mama, du wieder! Zum Friseur bis nach Vilnius!“
„In meiner Jugend gab es hier keinen Friseur, der Kaltwelle machte. Also fuhren wir zu Maral nach Vilnius.“
„Und wie war er, dieser Maral?“
„Was weiß ich? Angestellte arbeiteten für ihn. Danach gab es hier in der Stadt schon einen Meister, der Dauerwelle machte, Pataluj. Seine ganze Familie war eingespannt. Im eigenen Haus arbeiteten sie. Nicht für den Staat.“

Ich aber fuhr nach Berlin.
Letzten Sommer, unerwartet. Und gleich am zweiten Tag besuchte ich Marlene. Mama nach Vilnius zu Maral, ich nach Berlin zu Marlene. Eine halbe Stunde überirdische Metro und du bist im Stadtteil Friedenau. Von der Bahnstation sind es gerade einmal zehn Minuten zum Friedhof. Ein grauer Grabstein mit dem Vornamen Marlene, ohne Nachname, nicht weit vom Eingang. Abteilung Nummer 34. Wieder eine Erinnerung an Mamas Geburtsjahr. Es ist unmöglich, das nicht zu bemerken und nicht aufzuschreiben, wenn du über Mama schreibst. Efeu umwuchs das Grab. Ich blieb stehen und betrachtete den Grabstein. Als könnte ich etwas entdecken außer dem, was da ist. Ein heißer Tag, kein Blatt bewegte sich, Juni. Plötzlich raschelten die Blumen auf dem Grab. Eine Maus schaute mit blitzenden Augen hervor. Für mich stand sofort fest: Das ist ein Gruß von Marlene. Oder gar eine Segnung. Den gesamten Monat, den ich in Berlin verbrachte, begleitete Marlene mich. Ich schaute all ihre Filme noch einmal an, hörte fast täglich ihre Lieder.

Ich besuchte das Haus Nummer 65 in der Leberstraße, in dem sie geboren wurde.
Ein ganz gewöhnliches Vorkriegshaus. Davon sind viele erhalten, trotz der Bombardierung im Zweiten Weltkrieg. Am Hauseingang hängt ein Schild, ein kleines Foto aus „Der Blaue Engel“ unter Glas. Ich hatte mir den Hauseingang anders vorgestellt. Bedeutender. Aber hier gehen Leute ein und aus. Vielleicht wohnt jemand in ihrer ehemaligen Wohnung. Vor dem Haus ist eine Baustelle. Auf der Straße fahren Busse zum Zoologischen Garten. Ich stellte mich auf die andere Straßenseite und sprach das Gebet „Gegrüßet seist du, Maria“. Denn ihr erster Vorname war Maria. Der zweite – Magdalena. Maria-Magdalena von Losch.

Insgeheim nenne ich die Stadt nicht Berlin, sondern Marlen.
Insbesondere, seit ich auf dem Flohmarkt nahe der Kopenhagener Straße, wo ich temporär wohnte, einfach zufällig unter tausenden alten Postkarten aufs Geratewohl eine Postkarte mit Marlene hervorzog. Ich war erst spät aus dem Haus gegangen, am frühen Abend, weil es heiß war, und wusste nicht, wie lange der Flohmarkt geöffnet hatte, aber als ich zwei Leute mit vollen Wassereimern die Straße überqueren sah – jeder trug gleich zwei Eimer –, beruhigte ich mich.
Ich kramte in den Schachteln auf dem gigantischen Tisch, die Bibliothekskarteien ähnelten, und stieß sofort auf Marlene. Meine Finger erzitterten. Mit bebender Stimme fragte ich den ältlichen Türken mit den langen Wimpern über den Augen:
„Wie viel?“
„Fünf Euro“, spreizte der erfahrene Verkäufer die Finger auseinander.
„Für eine Postkarte?“
Erfolglos gab ich vor, das sei eine ganz gewöhnliche Postkarte. Doch die treulosen Hände zitterten.
„Eine Berühmtheit halt“, sagte er. Der schöne Türke kannte den Star. Und hielt wieder fünf Finger hoch.

Ich bestellte einen Grabstein für Mama.
Und überlegte mir, den Schal der Berliner Marlene vom Flohmarkt um Mamas Hals zu legen, also auf Mamas Foto zu übertragen. Mama trug immer seidene Halstücher, genäht aus Resten von Kleidern, doch Fotos damit gibt es nicht. Soll man doch auf dem Grabstein sehen, dass sie welche hatte. Ein befreundeter Fotograf legte Marlenes Schal mit einem Zauberstreich auf Mamas Fotografie. Ich schaue das Porträt an und traue meinen Augen nicht.

Falling in love again
never wanted to.
What am I to do?

Leider oder zum Glück gibt es keine Porträts von Mama im reiferen Alter. Es gibt nur das Foto für die Ehrentafel der Staatsbank. Darauf ist sie etwa 35 Jahre alt. Eigentlich hat Mama immer so ausgesehen wie auf diesem Foto. Brille, Lockwelle, minimales Make-up. Und jetzt noch der kokett umgebundene Schal. Ich stelle mir Mamas Reaktion auf diesen Streich vor. Sie hätte sich natürlich gewundert, aber dann hätte sie wohl gelacht.

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