Erste Gedanken an Heilung
Der Krieg macht die Lebensformen zeitnegativ. Auch indirekt. Er beschleunigt Verwelkung, er lässt Kinder altern und den Tod näherkommen – und vollzieht damit seine „postapokalyptische“ Räumung. Auch den Unterschied an Erfahrung zwischen Menschen aus friedlichen und Menschen aus kriegsvergifteten Regionen, zwischen Menschen aus Gebieten des Danachs, zum Beispiel in befreiten Territorien, und denen des Davors, die sich nah an der beweglichen Frontlinie befinden, könnte man sich als einen der Zeitlichkeiten vorstellen. Es gibt ukrainische Geflüchtete aus den Jahren 2014, 2015 und es gibt jene, deren Fluchterfahrung mit dem Jahr 2022 verbunden ist. Nicht umsonst wird der Krieg selbst als eine „historische Zäsur“ bezeichnet.
Im Raster der Zeit erscheinen Kriegsgeflüchtete als Gäste aus der befürchteten negativen Zukunft. Die erzwungene Reduktion auf das nackte Leben, ihre in Frage gestellte Existenz verleiht diesen Menschen den Status von Rückständigen. Je näher sie der Front sind, desto vergangener wirken der menschliche Körper und der Frieden als eine verkörperte Idee.
Die Zeit wird so fürchterlich verschwendet. Dann doch noch ein Stück Zeit zu finden und sich in dieses letzte verbleibende Stück Zeit hineinzuschleichen, gibt eine leicht verdunstende Hoffnung.
Letzten Sommer hatte ich ein Gespräch über Ungleichzeitigkeiten mit einer Freundin, die aus der Region Donezk stammt und schon seit zehn Jahren vertrieben ist. Nachdem sie bei einer Lesung meinen Text aus dem Buch “Aus dem Nebel des Krieges“ über die Erfahrung der russischen Invasion im Jahr 2022 gehört hatte, teilte sie mit mir ihre Erfahrung darüber, wie lange sich das Warten auf das Ende des Krieges für sie ausgedehnt hatte. Für sie hatte er schon viel länger gedauert als für mich und sie hatte viel, viel mehr verloren als ich. Ihre Stimme sprach aus einer anderen Temporalität, sie hatte schon aufgehört zu warten und wollte in der Wirklichkeit der Verluste leben. Ich weiß nicht, ob ihre schon angesetzte Verarbeitung einen Weg in Richtung Heilung bedeutet.
Ist „Heilung“ überhaupt möglich und angemessen als Wort, um diese Handlungserfahrung zu beschreiben? Unabhängig davon, ob wir uns im Rahmen des Möglichen oder des Unmöglichen befinden, erweist sich die Akzeptanz der schrecklichen Realität als eine gestalterische Fähigkeit, in der vorhandenen Zeit anders unterzukommen und für sich Spielräume zu (er)finden. Anders gesagt, in der Dunkelheit wird ein Danach geformt. Ich bin nicht sicher, ob ich diesen Prozess ohne Metaphern beschreiben kann.
Die Freundin von mir hat sich nun der Armee angeschlossen. Nach vielen Jahren Menschenrechtsaktivismus, nach einer Phase der Trauer um die Verlorenen, die sie sich irgendwann erlaubt hatte, und nach einer guten Behandlung ihrer Depression. Ihre sorgfältig kultivierte neue Zeitlichkeit hat die Großinvasion niedergemäht. Wohin gelangt sie jetzt mit ihrer Entscheidung? Was bleibt von der Möglichkeit einer Heilung während des Krieges? Ich habe keine Antwort, weil ich wahrscheinlich die Frage falsch finde. Die andauernde Vernichtung lässt keinen Raum für sie zu. Sie mag aber falsch in die richtige Richtung sein.
Ich schaue mir die Fotos meiner Freundin vom Training in irgendeinem Wald an. Die Uniform soll besonders bequem sein, damit man die Belastung aushalten und den Körper gut beherrschen kann. Die Farbe der Uniform ist ein Extrakt von Farben der Umgebung. So eine tiefharmonische Tarnung als Selbstschutz und zugleich Vorbereitung auf ein mögliches Angreifen, eine mögliche Zerstörung. Dabei wird eine Nähe zur Natur gepflegt und eine ungleichberechtigte Komplizenschaft gebildet. Unvermeidlich wird der Krieg von der Umwelt absorbiert. Die natürliche Antwort darauf ist die Entgiftung, mit oder ohne menschliche Komplizenschaft, aber mit dem Versprechen einer neuen Zeit.
Ich schaue das Foto vom Weiden- und Pappelwald an, der ein Jahr nach der Explosion des Kachowka-Staudamms den entblösten Boden vom Stausee bewachsen hat. Nach mehreren Bildern von gebrochenen Bäumen und aschefarbigen Häuserruinen ist es ein seltsames Foto. Die Entstehung des Waldes war nicht prognostizierbar, erwartet wurde eine Wüste. Die Kachowka-Katastrophe vor einem Jahr ist eine der größten Naturkatastrophen dieses Jahrhunderts. Ihre Auswirkungen sind mit den Folgen des Einsatzes taktischer Atomwaffen vergleichbar. Nun wachsen hier die Bäume überraschend schnell, als nützten sie die Pause zwischen menschlichen Interventionen und Großprojekten. Laut Naturforschern kann die ganze Region dank dieses Waldes anders „atmen“, und vielleicht wird dadurch sogar zukünftig ein weniger trockenes Klima entstehen. Die fragile Zeit nach der Öffnung des Stausees verbindet sich mit der Zeit vor seiner Schaffung: In den 1950ern wurde durch den sowjetischen Kraftwerkbau die Große Wiese, ein Naturgebiet mit riesigen Auen entlang des Flusses Dnipro, unter Wasser gesetzt. Die Landschaft war auch die Heimat des ukrainischen Kosakentums. Mit der Zerstörung des Staudamms kommt eine vergessene naturhistorische Schicht wieder an die Oberfläche. Die Landschaft erzeugt die potenzielle Zeit, indem sie erzählt und sich interpretieren lässt. Was genau kann man von diesem therapeutischen Prozess lernen?
Gleichzeitig erfahre ich aus den Nachrichten über das russische Verminungssystem mit dem Namen „Landwirtschaft“, das sehr effizient sein soll, staune (ganz kurz) über das Naming und habe nicht viel dazu zu sagen. In der Zeitung Agro-Business finde ich eine Anleitung der Biologin Walentyna Mowtschan über die Heilung der Erde nach einem Beschuss. Sie schreibt, dass eine militärische Verschmutzung der Erde der intensiven Landwirtschaft mit ihren Düngern und Pestiziden fast gleiche. Wenn Granaten das Land getroffen und Krater hinterlassen haben, sollten diese Orte von den Schwermetallen entgiftet werden. Sei die Kontamination stark, werde dort ein Jahr oder etwas länger nichts wachsen können. Den Krater müsse man zunächst neu besiedeln: mit Gründüngungen, die auch Zwischenkulturen (auf Ukrainisch проміжні культури) heißen. Was sind diese delikaten Entgifter der Zukunft? Mowtschan nennt Luzerne, Topinambur, Amaranth, Senf, Meerkohl, Beinwell. Dass diese Zwischenkulturen (dem Boden und generell) eine Chance geben, wirkt in einem Erschöpfungskrieg wahrscheinlich noch signifikanter und subversiver.
In meiner kulturellen Imagination ist Heilung eine ganz konkrete Geste: Eine Berührung, die die Oberfläche wieder ganz(heitlich) macht. Ein unmögliches Bild. Ich denke daran, wie sich menschliche und nichtmenschliche Lebewesen in ihrem Kampf ums Überleben berühren. Daran, wie sich ihre Art der Interaktion mit der vorhandenen Welt in menschliche Handlungen übersetzen lässt. Die Zwischenfrüchte sind nun zwischen mir und etwas, das ich nicht ganz verstehe und das ich so sehr ansprechen will.
* Die Idee des Textes entstand im Rahmen des Projekts "Heilung" von Kateryna Mishchenko und dem Fotografen Florian Bachmeier, unterstützt von The Europe-Ukraine Desk Programm. Das Projekt wurde mit finanzieller Unterstützung der Europäischen Union umgesetzt. Der Inhalt dieser Veröffentlichung liegt in der alleinigen Verantwortung von der Autorin und kann unter keinen Umständen als Ausdruck der Position der Europäischen Union angesehen werden.