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Schnee von gestern

von Antje Rávic Strubel

Vom Messetrubel haben wir nicht allzu viel mitbekommen. Dazu reichte die Zeit nicht. Dazu lag zu viel Schnee. Nach einem Abstecher an die Stände des Hanserverlages und des S. Fischer Verlages in Halle 4 - Mariam mit einem leuchtenden Tuch, auf dem in Persisch von der Kraft der Liebe die Rede war, was Anlass bot, über die Nähe des Persischen zum Arabischen nachzudenken, zwei Sprachen, die einander offenbar so ähneln wie das Deutsche dem Niederländischen, was mir neu war und vielleicht auch nur halb stimmt, denn wir sprachen darüber auf Englisch und Deutsch, und eine Erkältung hatte mein Gehör wie in Watte gepackt - mussten wir die Messe schon verlassen, um durch dichtes Schneetreiben in ein unbekanntes Viertel hinter den Eisenbahnschienen zu fahren.

Hinter den Eisenbahnschienen heißt in Leipzig soviel wie „jwd“ – janz weit draußen. In diesem Schnee, der die Straßen einpackte, schien dieses Viertel noch viel weiter von allem entfernt, so entlegen, dass ich mich fremd zu fühlen begannn, und wenn ich hier schon fremd war, wie fremd, dachte ich, musste es dann erst für Mariam sein. Im Eckhaus einer menschenleeren Straße befand sich der Veranstaltungsort für die erste gemeinsame Lesung von Mariam und mir; ein Wahlkampfbüro der Linken, das wie eine Mischung aus Kindertagesstätte und dem Wartezimmer einer Arztpraxis aussah. Wir trafen kurz vor sieben ein und waren die Einzigen inmitten der optimistisch aufgereihten Stühle. Hinter einem roten Plüschvorhang tagte noch der Fotoclub, der kurz vor sieben verschwand, nicht ohne, dass jedes Mitglied uns einzeln einen schönen Abend wünschte, angesichts der leeren Stuhlreihen eine Art Beileidsbekundung. Bleiben wollten sie nicht. Während der Schneesturm sie nicht davon abhielt, nach Hause zu eilen, schien er jenen Gästen, die, wie wir hörten, gewöhnlich hier die Zuhörer waren und der älteren Generation angehörten, das Ausgehen zu vergraulen. Nur einer kam. Der aber wollte für seine eigene Veranstaltung werben und Flyer auf den Stühlen verteilen, was einer gewissen Komik nicht entbehrte.

Mariam blieb gefasst. Wir begannen zu reden. Es wurde ein ungewöhnlicher Abend, ein halb öffentliches und umso persönlicheres Gespräch über Afghanistan und die DDR und die Ankunft in der Bundesrepublik Deutschland, darüber, was man zurücklässt, wenn man eine Gesellschaft gegen eine andere eintauscht, und wie sich ans Zurückgelassene erinnern lässt, von welchem Standpunkt aus und wie sich diese Standpunkte im Laufe der Zeit verschieben und mit ihnen das Erinnerte, wie der Schnee von gestern immer wieder anders fällt, Spuren sichtbar macht, andere verdeckt, und wie wichtig gerade dieses Flüchtige, Waghalsige, Instabile der Erinnerung fürs Lebendigsein ist. Ohne die Gaukeleien eines tröstlich- trügerischen, unzuverlässigen Gedächtnisses wird das eigene Rückgrat zum Stock, findet jede Bewegung nur noch im beengenden Gehege einer Erinnerungskultur statt.

Und als Mariam ihre Gedichte auf persisch las, fiel draußen weiter der Schnee.

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