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Ein paar Worte über Maryam

von Ilma Rakusa, im April 2022

 

Wir kennen uns nur über Briefe. Maryam lebt in Kabul, ich in Zürich, Welten trennen uns. Und doch ist sie mir nahe, wie eine Freundin. Unsere Gedanken finden sich.

Die zarte junge Frau mit den feinen Gesichtszügen und dunklen Augen blickt mich von einem Foto an. Sie schaut bestimmt und zugleich sehnsüchtig. Sie möchte keine Gefangene sein. Mit ihrer Familie lebt sie mitten in Kabul, seit Jahren wegen einer Krankheit an den Rollstuhl gefesselt. Die Familie ist ihr Schutz und Halt, die Brüder lesen ihr vor, die Schwestern unterstützen sie bei ihrem Wunsch zu schreiben, Schriftstellerin zu werden. Es gibt Geborgenheit und einen Hof mit „Podest“, wo Maryam an warmen Tagen den Himmel und die Vögel beobachtet, die Blätter des Quittenbaums und den wehenden Pappelflaum. Dieser Hof ist ihr Fenster zur Welt. Früher, vor der Machtübernahme der Taliban, machte sie Ausflüge zum Basar, sah sich Teppiche und bunte Stoffe an, freute sich über das quirlige Leben und seine Farben.

Seither hat sich alles geändert. Maryam, die einst Jura studiert und anschliessend in der Bildungsarbeit für Frauen tätig war, kann nicht einmal mehr einen Fernkurs für Englisch belegen, ihre Schwestern dürfen nicht studieren bzw. ihren Beruf als Journalistin ausüben. Jederzeit ist mit Haussuchungen durch die Taliban zu rechnen, die Familie darbt. Arbeit gibt es keine, woher also das nötige Geld nehmen, um Brot und alles Lebensnotwendige zu kaufen? Hunger, Kälte, Einsamkeit. Und Angst vor der Zukunft.

Umso mehr sucht Maryam Zuflucht in der Literatur. Im persischen „Königsbuch“ (Schahname) von Ferdousi oder in Ali Bakhtiars Roman „Der letzte Granatapfel“. Auch die biblische Figur des Moses, der sein Volk aus der Verbannung in die alte Heimat geführt hat, gibt ihr Kraft. Selber möchte sie über die Sorgen ihrer Landsleute schreiben, vor allem die der Frauen, die es in Afghanistan einmal mehr am schwersten haben. Es geht ihr nicht um persönliche Klage oder Anklage, sondern darum, ein Sprachrohr für viele zu werden. Deshalb hört sie sich die Geschichten anderer Frauen an und leiht ihr Ohr den Notleidenden.

Ich kann sie gut verstehen, obwohl der westliche Individualismus mich darin bestärkt hat, die Einzelstimme ernst zu nehmen und nicht im Namen anderer zu sprechen. Jeder darf bei uns das Was und Wie seines Schreibens selbst bestimmen. Das ist in Afghanistan anders. Es gibt erdrückende Probleme, denen man sich nicht entziehen kann, frei denkende Schriftsteller und Schriftstellerinnen fühlen sich verpflichtet, dringliche Themen anzusprechen. Sie wissen, was ihr Land im Innersten umtreibt und wie sie es verändern möchten. Jede(r) Schreibende fühlt sich verantwortlich, an diesen Veränderungen mitzuwirken. So auch Maryam. Sie schreibt nicht über ihre Krankheit, sie schreibt über die Angst vor Selbstmordattentaten, über den alltäglichen Terror, über die Lage der Frauen, die an ihrer Entfaltung fundamental gehindert werden. Privates Malaise hat keinen Platz.

Ich bin überzeugt, dass Maryam mit ihrer genauen Beobachtungsgabe und ihrer Zivilcourage weiterhin eindrückliche Texte schreiben wird, die - aufklärerisch und augenöffnend - auch unseren Blick auf Afghanistan schärfen werden. Literatur vermag vieles, sie ist eine Brückenbauerin, habe ich ihr geschrieben, als sie mit dem eigenen Schreiben gehadert hat. Die Frage ist nur, unter welchen Umständen sie ihre Texte veröffentlichen kann, ohne sich und ihre Familie zu gefährden. Denn die Taliban-Zensur ist grausam und straft die Andersdenkenden ab. Freiheit im kulturellen Bereich existiert nicht. Und Vaterlandsliebe wird nur dann akzeptiert, wenn sie den Vorstellungen der Gotteskrieger (und ihrem Verständnis des Korans) entspricht.

Gut möglich, dass Maryam noch viele Jahre aus dem inneren Exil heraus wird schreiben müssen und die eigentlichen Adressaten ihrer Texte nur auf Umwegen erreichen kann. Aber sie will gehört werden. Und wir müssen alles tun, damit ihr dies gelingt.

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