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Drei Möglichkeiten, eine Wüste zu durchqueren

Von Ulrike Almut Sandig

Als ich Fady Jomar Anfang November 2019 zum ersten Mal in einem Café in Kreuzberg traf, kannte ich noch nicht viel mehr als seine Lieder der Kälte, deren deutsche Übersetzung von Suleiman Taufiq auf der Website des Projekts weiterschreiben.jetzt stehen. Beim Lesen seiner Verse hatte ich das Gefühl gehabt, das einen überkommt, wenn man in der U-Bahn sitzt und sich plötzlich umschaut, weil hinter einem jemand sitzt, der einen betrachtet. Oder man steht im Hellen und versucht, etwas in einem dunklen Fenster zu erkennen. Hier schrieb jemand einen Adressaten, eine Adressatin an, der oder die ihn möglicherweise gar nicht sieht. Und diese Adressatin war ich.

Auch wenn wir / von der gleichen Quelle trinken / und uns auf der gleichen Erde abmühn, / bleibt zwischen uns eine Wüste, las ich. Aber warum die Wüste? Ist Dichtung, da sie nun einmal aus Sprache besteht, nicht immer Kommunikation? Was also befindet sich in der Wüste zwischen uns, dass sie so undurchquerbar scheint? Tausende von Gestern und Morgen, Tausende von Soldaten an den Grenzen, las ich weiter. Als Fady Jomar mir dann gegenübersaß, staunte ich kurz, dass er mir gar nicht erzählte, welche Bedrohungen ihn aus seinem Heimatland Syrien vertrieben hatten. Stattdessen saß da ein freundlicher, gut gekleideter Mann, der mit mir über Dichtung und Vortragskunst reden wollte.

Seine Stimme war tiefer, als ich erwartet hatte, und ich dachte sofort: Hip-Hop. Ich schlug ihm vor, elektronische Beats aufzutreiben, zu denen wir seine Lieder der Kälte vortragen könnten. Ich fand sie bei Le Fou, einem jungen Berliner Producer, der gerade seine ersten interessanten Tracks auf Soundcloud veröffentlicht. Seine bassigen Grooves passten perfekt zu Fadys Bariton und auch zum Rhythmus der deutschen Fassung seiner Verse. Und Fady, selbst erfahren im Schreiben für die Bühne und ein Kenner orientalischer Musik, konnte sich mit den Beats plötzlich auf eine Weise verständlich machen, wie es mit einer bloßen Übersetzung nicht immer gelingt. Das ist die erste Möglichkeit, eine Wüste zu durchqueren.

Die zweite Möglichkeit ist die Nachdichtung. Es gibt bereits sehr gute deutsche Übersetzungen von Fady Jomars Texten. Aber durch bloßes Übersetzung verlieren Gedichte oft ein wenig. Zu vieles lässt sich nicht eins zu eins in der Zielsprache abbilden. Was macht man also? Man erarbeitet auf der Grundlage einer Interlinearübersetzung, die den Originaltext möglichst Wort für Wort in der Zielsprache abbildet, eine Nachdichtung. Mit den poetischen Mitteln der Zielsprache entfernt man sich etwas weiter vom Original, als es in einer reinen Übersetzung üblich wäre. Im Idealfall entsteht dabei ein Gedicht, das dem Original deutlich näher kommt als eine Übersetzung, obwohl es sich in Details unterscheidet.

Wir nahmen uns also einen Gedichtzyklus vor, an dem Fady gerade schrieb. Die Literaturwissenschaftlerin und unverzichtbare weiterschreiben-Mitarbeiterin Lama Al Haddad fertigte Interlinearübersetzungen seiner noch ganz frischen Verse an. Die lasen wir gemeinsam und drehten jedes Wort, jede Wendung, jede grammatikalische Konstruktion nach allen Seiten um. Ich stellte Fragen, Lama und Fady antworteten, es war ein freudiges, präzises Miteinander auf Deutsch, Englisch und Arabisch. In den Tagen zwischen unseren Treffen arbeitete ich an der deutschen Fassung der besprochenen Texte, während Fady seinen Zyklus zu Ende schrieb. Finden Sie das verwirrend? Ich auch! Aber am Ende wurden Nachdichtung und arabisches Original fast zeitgleich fertig. Warten auf dich ist ein Zyklus über das Verhältnis zwischen den Geschlechtern, der mich an das Hohelied der Liebe denken lässt und ein bisschen auch an Hölderlin.

Mit Le Fous Hip-Hop-Beats hatte ich Fady in ‚meine‘ Musik eingeführt. Mit Lamas übersetzerischer Unterstützung hatte ich Fadys gerade entstehende Verse ins Deutsche übertragen. Nun sollte er mich mit orientalischer Musik vertraut machen – und das ist vielleicht eine dritte Möglichkeit, eine Wüste zu durchqueren. Fady stellte den Kontakt zu den Musikern Wassim Mukdad (Oud), Ronî Jojo (Gitarre) und Sebastian Flaig (Percussion) her. Und als wir fünf Mitte Januar seinen neuen Zyklus musikalisch aufführten, war die Wüste zwischen den Sprachen, Biografien und Kulturen mehr als verständlich. Sie war vielleicht auch, für die Dauer von siebzehn Minuten, verschwunden.

 

 

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