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Die Poesie muss Halt geben

Joachim Sartorius an Osama Al-Dhari

Berlin, den 14. Mai 2020

Lieber Osama,

auf unsere gemeinsame Lesung in Berlin hatte ich mich sehr gefreut. Nun ist sie wegen Corona verschoben worden. Es ist deshalb eine gute Idee, mit einem Briefwechsel zu beginnen, auch wenn es schwierig ist, jemandem zu schreiben, den man so gut wie gar nicht oder nur sehr mittelbar und unvollkommen kennt. In Deiner Heimat, dem Jemen, war ich nur ein einziges Mal, im Februar 2000, als noch ein prekärer Frieden herrschte. Anlass war ein arabisch-deutsches Dichtertreffen, und viele große Dichterinnen und Dichter waren gekommen, Adonis und Abbas Beydoun und Sargon Boulos auf arabischer, Hans Magnus Enzensberger, Volker Braun, Ilma Rakusa und Durs Grünbein auf deutscher Seite, um nur einige zu nennen. Wir lasen und diskutierten in Sanaa, machten Ausflüge zu einigen architektonisch hinreißenden Provinzstädten und auch nach dem heißen, stickigen Aden zu Arthur Rimbaud. Die jemenitischen Gastgeber waren sehr großzügig. Du hast von diesem Treffen wahrscheinlich nichts mitbekommen. Damals musst Du sechzehn Jahre alt gewesen sein? Bei den Ausflügen wurden unsere Busse von Polizeiwagen eskortiert und Enzensberger scherzte, noch nie auf der Welt hätte es Dichterkonvois mit Blaulicht gegeben.

Spielarten dieser Ironie sind Dir nicht fremd. Ich entdecke sie auch in Deinen Gedichten, von denen ich nur zwei kenne: „Tag der Einsamkeit“ und „Ein Fisch zum Grillen, vier zum Begaffen“. Es sind starke Gedichte, es sind traurige Gedichte. An manchen Stellen blitzt in dem Ernst und all der Bitterkeit der Bilder auch ein Quäntchen Humor – oder Sarkasmus – auf. Ich mag diese beiden Gedichte sehr und hoffe, es werden bald weitere Gedichte von Dir ins Deutsche übersetzt, so dass ich mehr von Dir lesen kann. In dem Gedicht über die Fische hat mich die letzte Strophe sehr berührt. Das Ich, das spricht, versucht die Lage der Fische, dieser Kreaturen zu verstehen, in Aquarien in einem Restaurant gefangen gehalten und zum Verzehr, „zum Grillen“ bestimmt. Plötzlich verliert der Sprechende die Distanz des Beobachtenden und spricht von „uns“: Die Fangnetze lauern „uns“ auf, sie sperren „uns“ hinter Glas. Vorausgegangen war ein mimetisches Erleben, ein Sich-Hineinversetzen in die Fische an der Stelle, von der aus sie Kreatur sind. So formulierte es Rilke (am Beispiel eines Hundes) und später der Franzose Yves Bonnefoy (am Beispiel einer Eidechse) und andere Dichter. Diese Mimesis endet bei Dir mit einer Volte: „Im nächsten Leben will ich kein Fisch sein, will nicht gefangen werden […]“. Ich lese dieses Gedicht in erster Linie als Betrachtung darüber, was der Mensch den Tieren alles antut. Aber der Schluss liegt nahe, dass es auch eine politische Implikation gibt? Ist der Dichter ein bedrohtes Wesen, das gefangen und mundtot gemacht werden soll? Ich wäre Dir dankbar, wenn Du mir hier weiterhilfst.

Hast Du große Sehnsucht nach Sanaa? Damals, im Frühjahr 2000, war es eine Zeit zwischen den Bürgerkriegen. Alles schien, zumindest an der Oberfläche, friedlich. Einer der Hauptorganisatoren dieser Tagung, der Dichter Abd al-Aziz al-Maqalih, zugleich Präsident der Universität Sanaa, wurde nicht müde, uns, den deutschen Dichtern, zu sagen, dass sich sein Land endlich auf einem Weg des Friedens befinde. Und sollte es anders kommen, so fügte er hinzu, dann müsse die Poesie uns Halt geben.

Viele herzliche Grüße

Joachim

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