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Begegnungen

von Lena Gorelik

1.
Yamen hat sich die Haare geschnitten. Kurz sind sie, beinahe erwachsen. Du hast dir die Haare geschnitten, sage ich also, rufe ich aus, es ist das Erste, was ich zu ihm sage. Vorher drücke ich ihn oder er drückt mich. Hat er gar nicht, sagt Yamen. Sich die Haare geschnitten. Haben seine Freund*innen gemacht, die, mit denen er zusammen in einer WG lebt. Eines Abends, es war nicht geplant, sagt Yamen, das Haareschneiden. Sie haben darauf bestanden. Es ist Sommer, als sie ihm die Haare schneiden, und es ist September, als er mir vom Haareschneiden erzählt. Er ist heiß geworden, dieser Sommer, drückend. Willst du was trinken, fragt Yamen.

Wir holen uns Bier, sitzen auf Gartenstühlen, es ist immer noch warm. Irgendwo in Nürnberg, auf einem Literaturfestival. Haben uns lange nicht gesehen, auf den Bierflaschen klebt ein Etikett des Literaturfestivals, und ich zerre es von der gekühlten Flasche ab, so eine nervige Angewohnheit von mir. Knülle das nasse Papier zusammen, während Yamen mir von Leipzig erzählt. Während mir Yamen von dem Zimmer erzählt, in dem er mit seiner Freundin und noch einer weiteren Freundin wohnt, woraufhin das Drückende dieses Sommers noch eine andere Bedeutung bekommt. Während Yamen mir von seiner Mutter erzählt, die erkrankt ist, und ich ihm von meinem Vater erzähle, seinen Herzproblemen, davon, wie seine Finger zittern, wie ich wegschaue, wenn seine Finger zittern, wie er sich weigert, ein Hörgerät zu tragen, obwohl er schlecht hört. Und während ich mir, wie jedes Mal, wenn wir uns von unseren Eltern erzählen, denke, dass sie sich gut verstehen würden, diese Elternpaare. Obwohl sie keine gemeinsame Sprache hätten, Syrisch, Russisch, Deutsch. Obwohl sie keine gemeinsame Geschichte hätten, aber vielleicht braucht man das alles nicht, Sprachen, Geschichten, vielleicht können sie einfach die Augen lesen. Vielleicht lesen sie dann von ihren schreibenden Kindern, dass sie nicht immer verstehen, was ihre Kinder da schreiben, wie ihre Kinder da leben, was ihre Kinder tun. Vielleicht lesen sie von Krankheiten und den Schmerzen, die nicht von den Krankheiten kommen, vielleicht lesen sie dann Sehnsucht und Verlust und Angst.

Dann sitzen wir auf der Bühne, Yamen liest, ich lese, lese seine Gedichte auf Deutsch, mache mir immer Sorgen, dass ich sie nicht so lese, wie er sie geschrieben hat. Eine Moderatorin stellt Fragen, die Yamen ehrlich und ruhig beantwortet, ich blicke ihn von der Seite an, würde gerne mitschreiben, dieses oder jenes, was auf der Bühne nicht geht. Habe mich noch nicht an seine kurzen Haare gewöhnt.

2.
In der Zeit, in der die Corona-Pandemie uns zwingt, zu Hause zu bleiben, in der sie uns auf unser Zuhause und unsere Nächsten zurückwirft, und auf die Einsamkeit, die entsteht, wenn man alleine oder eben mit den Nächsten zusammen gefangen ist, auf unsinnige Fragen wie Was essen wir heute, während es eigentlich um die großen Fragen geht, wie Was sind wir, als Gemeinschaft, beginne ich, Scrabble zu spielen. Ich lade mir eine App herunter und spiele gegen Freund*innen, die ich nicht sehen darf, und würde gerne gegen meine Eltern spielen, die nur einander sehen, sonst niemanden, und den Hund, der gerade im Sterben liegt, sie sehen ihm beim Sterben zu. Kann gegen meine Eltern nicht spielen, vermute, mein Russisch ist dafür zu schlecht, und mache mir auch nicht die Mühe, nach einer russischsprachigen Scrabble-App zu suchen. Wenn ich ein Y bekomme, diesen Buchstaben, den ich immer schön fand, weil er aus diesen geraden Linien besteht, weil er mathematische Winkel hat, denke ich an Yamen. Ich kenne nicht viele Worte mit Y, meistens versuche ich ein Yen oder ein Ey zu legen, ich schreibe Yamen eine Mail. Ich schreibe einmal, zweimal, dreimal, ich erzähle von mir. Ich erzähle, wie es niemals still ist um mich herum seit Corona, so schreibe ich das: seit Corona. Wie die Kinder immerzu sprechen, laut denken, wie meine Mutter nicht aufhört zu sprechen, wenn ich sie anrufe, wie wir uns gegenseitig von unseren Spaziergängen erzählen, wie ich vielleicht das erste Mal seit Jahren mit meinen Eltern spreche, wie ich ihnen wirklich zuhöre, wie ich durch den Park laufe dabei und wie ich ihnen die Tränen verschweige, während sie mir in kleinen Schritten erzählen, wie der Hund gerade stirbt. Yamen antwortet mir nicht. Ich schreibe noch einmal, möchte wissen, traue mich nicht zu fragen, google Corona + Syrien, frage natürlich, Yamen antwortet nicht. Du musst mir nicht antworten, schreibe ich, schaue nach seinem Facebook-Account. Hoffe, es geht ihm gut.

Einmal erzählte mir Yamen, dass er die dunklen Gefühle kenne, ich frage ihn, als ich ihm schreibe, nicht nach Farben.

3.
Ich sehe alleine schon deshalb gerne in Yamens Facebook-Account, weil ich dann diese arabischen Buchstaben sehe, diese geschwungenen Zeichen, die versprechen, dass es noch ein anderes Leben, ein anderes Denken, ein anderes Erleben gibt. Die mich sofort in den Nahen Osten versetzen, Motorrad-Lärm, Shuk-Geräusche, Granatapfelsaft-Geruch, Knoblauch, Koriander, diese Wüstenluft auf der Zunge, alles ist laut und alles ist zugleich. Alles ist anders als in München, wo ich seit Wochen feststecke und wo ich diese schönen Orte, den Englischen Garten, die Isar, diese Behaglichkeit, die trotz Pandemie an dieser Stadt klebt wie ein Kaugummi, kaum noch ertrage. Yamen hat mir einmal erklärt, wie viele Worte es anstelle eines deutschen Adjektivs manchmal im Arabischen gibt, und ich stelle mir die Sprache vor wie einen großen, bunten Süßigkeitenladen. Deutsch, dachte ich damals, ich glaube, das war bei unserem ersten Treffen, wir tranken Kaffee und sprachen über Lyrik und ich schrieb mir Namen auf von Dichter*innen, die ich kennenlernen wollte, Deutsch, dachte ich also, wuselt einfach zu wenig, und behielt den Gedanken für mich, unsicher vielleicht, ob er Sinn machen würde für Yamen.

4.
Yamen postet bei Facebook, sehe ich. Das heißt nichts und das heißt alles, das heißt, dass es ihn noch gibt, was keinen Sinn macht aufzuschreiben, weil natürlich gibt es ihn noch. Ich scrolle hinunter, ich sehe, wie Yamen die Welt betrachtet. Wir betrachten dieselbe Welt. Wir betrachten sie mit vier Augen, er zwei, ich zwei, seine Augen sind braun. Meine Augen sind grün, unsere Augen haben unterschiedliche Bilder gespeichert, aber oft leiden wir an denselben Geschichten. Ein paar seiner Posts zeigen mir Teile der Welt, die ich vielleicht übersehen hätte, ich glaube nicht, dass es andersherum auch so ist. Er schreibt nichts über seine Familie, schreibt nichts über sich. In einer seiner letzten Mails hatte er berichtet, er schreibe kaum noch Gedichte.

Als mache es keinen Sinn, Gedichte zu schreiben, und ich kann nichts darauf antworten, ich kann ihm keine Plattitüden schicken, natürlich macht Poesie großen Sinn. Ich kann nicht Worte aneinanderreihen, wenn ich Yamen antworte, und ich denke an all die Tage, an denen ich es nicht schaffe, mehr zu sein als diese Frage, wozu. Man muss dieser Tage nicht so weit aus dem Fenster blicken, um sich die Frage nach dem Sinn von Worten zu stellen. Ich beginne meine Tage mit der Tagesschau-App und ich beende sie mit ihr, noch ein letzter Blick, bevor ich das Licht lösche, so wie gläubige Menschen ihre Tage mit Gebeten beginnen und beenden. Das Leid um uns herum, ein tägliches Gebet. Ich weiß nicht mehr, ob ich Yamen geantwortet hatte, dass ich hoffe, dass er eines Tages wieder Gedichte schreibt.

5.
In der Zeit, in der wir zu Hause bleiben sollen, in der das öffentliche Leben stillsteht und        die  Kinder,      anstatt  in  die Schule zu gehen, mir Sprechblasen von Donald Duck vorlesen, höre ichauf, am Roman zu schrieben. Als ich wieder alleine bin, weiß ich nicht, wie ich anfangen soll zu schreiben, welche Zeile, welches Wort, welche Geschichte. Alles macht gleichermaßen Sinn und keinen Sinn. Ich blättere in meinen Notizen: Ideen, Skizzen, Halbsätze, Worte, Erinnerungen, in Krakeleien gepresst, Zitate. Eines davon ist von Yamen, eine meiner Lieblingszeilen von ihm.

Vergeblich versuchst du, ihnen zu entkommen.

Das Land und das Gedächtnis haften an dir

wie der Kern

an der Pflaume.

Es dauert, bis ich wieder anfangen kann zu schreiben, bis ich Erinnerungen aneinanderreihe, bis ich sie streichen kann, ausschmücken, bis ich zu lügen beginne, bis ich alles entfremdet habe und die Hälfte davon angeeignet, mindestens.

Als ich Yamen das nächste Mal sehe, sehe ich ihn auf einem Bildschirm. Er lebt inzwischen in Berlin, und hinter ihm, auf diesem Bildschirm, hängen Pflanzen.

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