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Sackgasse

© Ali Ghandtschi

von Kateryna Mishchenko

Die Präsenz einer lesenden Person im Display dieser Ausstellung erinnert an eine Collage: eine Intervention von außen und eine aufgeklebte Zugehörigkeit. Beides ist relevant. Die Schichten der Collage wirken wie willkürliche und zugleich sehr durchdachte Überlappungen. Künstlerisch ist die Collage mit dem Mosaik verwandt, und sind sie nicht beide ideale Formen zur Darstellung von Geschichte?

„Zufällig“ fühle ich mich hier also nicht. Auch deshalb nicht, weil das Ereignis in meinem Land, das Menschen wie Figuren einer Collage aus dem Leben ausschneidet, einer der Ausgangspunkte der Reflexionen zur Ausstellung „Roads not Taken“ ist. Ich meine die russische Invasion im Februar 2022.

Ende September. Vor elf Jahren war ich zum letzten Mal auf der Krim, vier Tage Urlaub. Zum ersten Mal in Gursuf, einer Stadt, die bekannt ist für ihre schwule Szene. Baden am Strand von Tschechows Datscha. Die russische Besetzung der Krim 2014 wurde international nicht als Beginn des Krieges anerkannt. Doch jede Meeresküste ist seitdem eine Erinnerung an das Ende des Friedens. Heute schaue ich zurück; nicht um zu fragen, wann und was hätte anderes getan werden können, sondern um mich in dieser verwirrten Kontinuität zu platzieren und als Teil des neuen Wirbels der europäischen Geschichte wahrzunehmen.

Ende des Jahres 2013 war ich auf dem Unabhängigkeitsplatz von Kyjiw, noch ohne mir im Entferntesten vorstellen zu können, wie der ukrainische Aufstand, bekannt als Maidan-Revolution, mich bald verändern würde. Viel wichtiger als die persönliche ist natürlich die soziale Veränderung, die nach diesem Aufstand möglich wurde. Und die mit dem russischen Krieg zunichte wird. Immer mehr Menschen aus der Maidan-Generation sterben. Wenn ich heute zurückschaue und dann mich wieder in die Gegenwart einfinde, verstehe ich, dass die russische Gegenrevolution in der Ukraine erfolgreich voranschreitet. Das darf man wahrscheinlich als Ukrainerin nicht laut sagen. Ich sage das auch nicht sehr laut, weil ich noch hoffe, dass gesellschaftliche Emanzipation im Sinne der Maidan-Revolution oder eines neuen ukrainischen Projektes in der Zukunft wieder möglich sein wird. Momentan freunde ich mich mit den Flashbacks aus der Zeit der Hoffnung an.

Ich spreche über Hoffnung und stehe hier. Am bestmöglichen Ort dafür.

Heutige Ukraine-bezogene Diskurse sind neblig und dazu etwas collagenhaft: Mal redet man über Verhandlungen, mal über den Wiederaufbau, den Sieg, mal über die Müdigkeit und einen sehr langen Krieg. Das Tagträumen von der Zukunft wird bevorzugt, es offenbaren sich Verlorenheit sowie die Angst vor jedem Umbruch. Diese Sackgasse ist keine Tür in die Narnia. Sackgasse ist Sackgasse, zu spät heißt zu spät. Es gibt wahrscheinlich kein Zu-spät für die Geschichte in langfristiger Perspektive, aber doch für einzelne Leben und für politische Entscheidungen, die Leben schützen könnten. Das englische Wort für Sackgasse, dead end, ist sehr präzise. Mit dem Ende wird auch seitens des faschistischen Russlands gespielt. Seine nukleare Erpressung, also die Androhung des Endes, sorgt für die zynische Strategie des „Eskalationsmanagements“ – bzw. für ihre Rechtfertigung seitens Europas. „Wir werden die Ukraine unterstützen, solange es nötig sein wird.“ Wie lange ist das nötig und für wen? Wenn das Verstreichen der Zeit hunderte von menschlichen Leben kostet, ist das nicht an sich ein Argument dafür, der Erpressbarkeit ein Ende zu setzen? Aber welches Ende genau? Vielleicht das Ende der aktuellen Strategie, die nur dosiert unterstützt, die dosiert interveniert und die Ukraine vor „zu frechen“ Schritten warnt. Doch welche Zukunft kann man einem Land versprechen, dessen Grenzen heute verblutete Frontlinien sind und das bei seinem Widerstand immer wieder an eigene Grenzen kommt? Es ist zu spät für die westlichen Mächte, sich als Humanisten zu präsentieren. Aber auch zu spät, sich zu distanzieren oder mit Selbsttäuschung zu befrieden.

Das Bild der Ukraine als einer Schatzkammer unglaublicher Geschichten der Tapferkeit, der Opfer oder des Leidens, wie es gern gezeichnet wird, hat sich überlebt. So eine Schatzkammer durfte und darf nicht existieren. Menschen dürfen nicht an ihre eigenen Grenzen gebracht werden, um ihre Menschlichkeit zu beweisen. Eine Menschlichkeit, die für eine aktive, handlungsermächtigende Anerkennung oder, besser, anerkennende Handlung möglicher Retter trotzdem nicht ausreicht. Die Sackgasse zu sehen und einzusehen, heißt, sich herauszufordern, eine neue realistische Strategie zu entwickeln, schmerzliche Entscheidungen zu treffen. Schmerzlich nicht im Sinne von Schmerz antun, sondern im Sinne von den Schmerz der anderen wahrnehmen. Durch den Krieg wird mehr von der „ukrainischen Subjektivität“ gesprochen als früher. Was ist aber diese ukrainische Subjektivität in der Wahrnehmung anderer Akteure, die die Menschen in der Ukraine retten können? Und was ist die westliche, amerikanische, globaldemokratische Subjektivität? Was sind ihre Grenzen? Sind sie ungefähr dort, wo die westliche Grenze der Ukraine liegt?

Nuklear ist das neue Rot, Rot für die Linien, die die Solidarität mit der Ukraine nicht überschreitet. Manchmal ist das ukrainische Blut rot genug, um die Linie etwas zu erweitern und mehr Solidarität zuzulassen. Wie zuletzt nach dem Beschuss der Kinderklinik in Kyjiw. Danach kam zusätzliche Luftabwehr. Man hört immer lauter von den Rechtspopulist*innen, dass Geflüchtete, vor allem ukrainische Männer, die im Moment im Ausland sind, zurückfahren sollen, um zu kämpfen. Für ihr eigenes friedliches Leben in Europa anscheinend. Was ist das, wenn nicht eine ethische und menschliche Sackgasse?

Es ist zu spät für Einbildungen, aber es ist höchste Zeit für Imagination. Zu spät für den Mythos, die europäischen Werte würden auf ukrainischem Boden verteidigt – denn dieser Boden ist blutrot. Doch ist es nicht an der Zeit, über Mythen zu streiten. Man muss handeln. Jetzt handeln. Es ist Zeit, sich in die Offenheit der Geschichte wirklich einzuleben und bereit zu sein, sich ethisch und politisch neu zu entfalten.

 

Weitere Texte von Kateryna Mishchenko

Dieser Text entstand im Rahmen der Weiter Schreiben Intervention "Höchste Zeit für Imagination" am 25. September 2024 im Deutschen Historischen Museum.

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