Menu
Suche
Weiter Schreiben ist ein Projekt
von WIR MACHEN DAS

> Einfache Sprache
Logo Weiter Schreiben
Menu
Text-2

Die kantige Sprache des Gartens

Von Sveta Ben

 

Aus dem Belarusischen von Tina Wünschmann

Jeder Garten ist eine Filiale des Paradieses, eine diplomatische Vertretung des Paradieses, eine Kopie des Paradieses, erschaffen von einem großen Meister.

Der Garten atmet ein und hinein fließt und dringt der Himmel, durch jede Zelle des Laubes, durch jeden Grashalm. Der Garten ist gewebt, der Garten ist geformt, der Garten ist gemalt in Öl, so dick wie der Duft blühender Bäume. Der Garten ist gegossen aus Regen und feuchter Erde – wie ein vollkommenes Kunstwerk. Wie eine Ausstellung vollkommener Werke.

Der Garten und der Künstler, der den Garten malt, haben denselben Satz Chromosome, ihre Moleküle stimmen überein, gleichwie ihre Geschmacksrezeptoren.

Apfelblütenblätter liegen auf den Wegen wie Konfetti. Als feierten die Apfelbäume ein Fest. Setz dich in ihren Schatten, träum dich auf die Himmelsschaukel ihrer Zweige, wie eine Raupe, die auf die Metamorphose wartet. Verwandle dich – in einen Menschen mit einem neuen Sinnesorgan: dem Gartensinn. Das Fest des Gartens wird immer sein, denn alles, was im Paradies geschieht, ist ewig.

****

Die Gäste hinterlassen ihre Namen in einem Heft. Fünf große Nadelstiche halten die Blätter zusammen. Nähen die Namen derer, die sich in Sicherheit befinden (wie relativ das doch ist!) zu einer Leinwand mit den Namen derer, die gezwungen sind, unscheinbarer als graue Leinwand zu sein, dünner als der Spatel, mit dem die Farbe aufgetragen wird, durchscheinender als der Raum zwischen Leinwand und Farbe.

„Wir sollten hier besser nicht auftauchen“, sagt einer der Gäste, „niemand weiß, wie diese Treffen enden werden ...“

„Der Weg, den Frau Bekker gewählt hat, führt direkt ins Konzentrationslager“, sagt ein anderer.

„Welcher Weg führt denn heute nicht ins Konzentrationslager?“, fragt Wuzhiqi. Er sagt das einfach in den Raum hinein, ohne sich den Gästen zuzuwenden. Wuzhiqi ist eine chinesische Antiquität, ein seltsames Wesen. Seine künstlerische Aufgabe ist es, gedankenversunken dazusitzen, den Kopf auf die Hand gestützt. Die Gastgeberin nennt ihn den guten Hausgeist. Doch jetzt ist dieser Geist betroffen und betrübt:

„Was werden wir tun, Hanna? Es scheint, so schwere Zeiten haben wir noch nie erlebt.“

Er und die Gastgeberin sind Gleichgesinnte. Nur hält er nicht ihre ewige Zigarette in der Hand. Und sie kann es sich nicht erlauben, wie eine chinesische Statue dazusitzen.

Sie hüllt sich in Nikotinrauch und eilt zu den Gästen zurück. Über Kunst sprechen, lachen, leger sein (und retten, retten, retten!), noch sind sie alle zusammen, noch ...

****

„Das ist ja wirklich entartete Kunst!“, sagen die Bürger.

Nun ja, es steht ja auch am Eingang des Ausstellungssaales geschrieben.

Einer, der Besucher mit der höchsten Bildung, zitiert das Wörterbuch: „‚Entartung, lateinisch Degeneration. Ein Prozess des Verfalls von Organen und Funktionen, auch ganzer Organsysteme. Psychische Abweichungen, Unfähigkeit zur Sozialisation‘.

Das bedeutet, aus dem Körper der Kunst müssen auf operativem Weg einige Organe oder gar ganze Organsysteme entfernt werden.

Nämlich du und deine Freunde.

Deine Sozialisation ist nicht mehr möglich. Also los, wirf deine Bilder hier raus oder zersetze sie am besten gleich in Säure.

Sie stören den Körper der Kunst dabei, zu atmen und zu funktionieren, wie er soll.“

„Aber meine Bilder zu vernichten – das bedeutet, mich zu vernichten! Man kann doch nicht einfach so einen Menschen töten?“

„Doch, und wie“, sagt der gebildete Mensch und seine Augen blitzen wie das Skalpell, das deine Leinwände in viele kleine Fetzen zerschneiden wird.

Sie liegen auf dem Boden wie Apfelblütenkonfetti auf den Gartenwegen. Wie damals, als wir feierten, weißt du noch ...?

****

Das Haus hat sich geduckt, seine Wände zusammengezogen, um unauffällig zu sein.

Die Laterne auf der Veranda dient jetzt als Leuchtturm oder eher als Ampel, die anzeigt: „Geöffnet!“

Oder: „Vorsicht, ein Fremder ist im Haus!“

Dann muss man die Dämmerung abwarten, durch ein geheimes Tor in den Garten gelangen, hinter den großen Büschen stehen bis zum Signal: „Der Weg ist frei.“

Das warme Haus ist jetzt eine einzige himmelblaue Laterne. Der Garten schaut mit angehaltenem Atem zum Fenster herein.

****

Blasen und Schnittwunden an den Händen. Ich hoffe, die Künstler wissen das zu schätzen. Arbeit, Arbeit, immer neue Passepartouts für Bilder machen – die Vorbereitung für die Flüge ist eine schwierige Aufgabe! Jedes Gramm Gewicht ist von Bedeutung. Diese Bilder werden heute fliegen: Kuba, Indien, Griechenland ...

Ja, jetzt sind sie in Sicherheit.

„Das war aber nicht einfach“, murmelt der Wuzhiqi, der gar nicht auf die Idee kommt, seine Pose zu ändern – noch genauso nachdenklich, aber bereits nicht mehr so betrübt.

Die Hausherrin raucht konzentriert und überschlägt in Gedanken, wie viele Bilder wohl in diesen mit afrikanischen Motiven verzierten Koffer passen werden.

Ja, natürlich sprechen diese Bilder mit der Menschheit im Ganzen und überhaupt nicht über ihre Heimat! Aber durch ihre kantige Sprache, durch die Vokale und Konsonanten der Farben und Formen ist deutlich die Stimme eines Gartens vernehmbar. Eines konkreten Gartens, der ein himmelblaues Haus umgibt. Eines Gartens, der war und der ist. Denn alles, was im Paradies geschieht, ist ewig.

 

Weitere Texte von Sveta Ben

Dieser Text entstand im Rahmen der Weiter Schreiben Intervention "Turning Tables" am 5. Mai 2024 im Brücke Museum Berlin.

Zurück

Datenschutzerklärung

WordPress Cookie Hinweis von Real Cookie Banner