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Aufhören oder weitermachen

von Dima Albitar Kalaji

 

Aus dem Arabischen von Kerstin Wilsch

 18.3.2011 Der erste Freitag, der Freitag der Würde

Aufrufe zu Protesten, große Demonstrationen in Deraa südlich von Damaskus, das Regime löst die Demonstrationen gewaltsam auf, es gibt Verhaftungen und Tote.

Möchtest du mitmachen oder dich lieber davon fernhalten?

Mich fernhalten.

 

8.4.2011 Der vierte Freitag, der Freitag des Widerstands

Mehr als 30 Demonstrationen in ganz Syrien, das Regime löst sie gewaltsam auf, es gibt Verhaftungen und Tote.

Möchtest du mitmachen oder dich lieber davon fernhalten?

Mitmachen.

Obwohl die Demonstrationen und Protestaktionen täglich stattfanden, zählten für uns nur die Freitage, die Tage der Massendemonstrationen, denen das Regime mit heftigster Gewalt begegnete. Am nächsten Tag fanden die Beerdigungen der Toten statt. Sie mündeten in neue Demonstrationen, die wiederum gewaltsam aufgelöst wurden. Bald war jeder Tag ein Freitag. Die Zeit stand für uns still, es gab nur noch uns und nur noch einen Ruf: Das Volk will den Sturz des Regimes.

 

Donnerstag, 13.1.2012, Homs

Demonstrationen beherrschen ganz Syrien, einige deiner Freunde wurden verhaftet, deine Familie wurde vertrieben und du bist gezwungen, ständig umzuziehen. Verwundete können nicht in die Krankenhäuser des Regimes gebracht werden, man würde sie dort foltern und verhaften, die Versorgung der Untergrundkliniken mit medizinischem Material wird schwieriger. Stadtteile sind durch Kontrollpunkte und Scharfschützen voneinander abgeschnitten, täglich werden Menschen vermisst oder getötet.

Möchtest du weitermachen oder aufhören?

Weitermachen.

 

Wir fallen in den Ruf von Abdul Baset Al-Sarout* ein:

„Okay, wenn wir uns zurückziehen / versprichst du, uns anzuhören?

Wir wollen unsere Finger über dem Präsidentenpalast /

zum Siegeszeichen emporrecken!“

Al-Sarout war Torwart der Fußballmannschaft „Al-Karama“ in Homs und wurde innerhalb kürzester Zeit zu einem Vorsänger und Anführer der Demonstrationen in der Stadt. Seine Popularität wuchs mit jeder Demonstration und mit jedem Revolutionslied, das er sang. Er war kaum zwanzig Jahre alt, als er dem ersten Mordanschlag entging.

Homs wurde wegen der Größe und Intensität der Demonstrationen, aber auch der gewaltsamen Militäraktionen gegen die Stadt als „Hauptstadt der syrischen Revolution“ bezeichnet, und das Regime begann, die Belagerung der Altstadt und der nahegelegenen oppositionellen Viertel zu verschärfen.

Al-Sarout sang und ganz Syrien sang mit ihm:

„Gib uns die Güter des Landes zurück / und sei aufrichtig mit uns

Aber das Volk will trotzdem / dass du gehst und uns in Ruhe lässt“

 

März 2013, Altstadt von Homs

Das Regime belagert die Altstadt vollständig und hat alle Zugänge gesperrt, du kannst dich nicht mehr bewegen, weil dein Name an allen Kontrollpunkten bekannt ist, du hast sehr viele Freunde und Verwandte verloren. Die Geografie der Stadt hat sich durch den Beschuss geändert.

Möchtest du weitermachen oder aufhören?

Weitermachen.

Es gelang mir, in die belagerte Altstadt von Homs zurückzukehren. Ich tauchte durch den Fluss, um Scharfschützen zu entgehen, und beschloss, in Homs zu bleiben. Wir waren fest davon überzeugt, dass wir Erfolg haben würden. Nichts konnte die Syrer*innen davon abhalten, sich von der Assad-Herrschaft zu befreien. Die Revolution begann sich zu bewaffnen, um der Gewalt des Militärs und der Sicherheitskräfte zu begegnen. Am Anfang trugen die Menschen Handfeuerwaffen und Gewehre, um die Demonstrationen und Untergrundkliniken sowie die Stadtviertel, die sie beherbergten, zu schützen. Es waren die gleichen alten Gewehre, die wir in der Schule auseinanderzunehmen und wieder zusammenzubauen gelernt hatten. Schon mit dreizehn konnte ich ein russisches Gewehr zerlegen und wenn ich je eines in den Händen hatte, dann war das immer in der Schule. In allen anderen Fällen richtete es einer von Assads Truppen auf meinen Kopf oder er stieß mich damit vor sich her oder machte meine Sachen kaputt.

Im belagerten Homs teilten Al-Sarout, seine Mitkämpfer*innen und viele andere die noch verbliebenen Lebensmittel unter den Menschen auf. Al-Sarout war nun nicht mehr nur der Vorsänger auf den Demonstrationen, sondern er wurde auch zum Kommandeur einer Brigade aus Bewohner*innen der belagerten Viertel, die sich zu ihrer Verteidigung zusammenschlossen.

Nachdem zahlreiche Armeeangehörige aus den regulären Streitkräften desertiert waren, beherrschten die lokalen Brigaden der Opposition mehr als siebzig Prozent von Syrien – trotz ihrer begrenzten Ressourcen, der Brutalität der Armee und der Schabiha- und Hisbollah-Milizen, der massiven Zerstörungen in den Städten, des wirtschaftlichen Niedergangs und der gewaltigen Anzahl von Vermissten, Verwundeten, Inhaftierten, Ermordeten und Vertriebenen. Das Regime stand kurz vor dem Zusammenbruch. Doch die wirtschaftliche, politische und militärische Unterstützung seitens Irans und Russlands und das Auftauchen des Islamischen Staats im Nordosten des Landes, der erstmalige Einsatz von chemischen Waffen am 21. August 2013 und die darauffolgenden Entwicklungen zeigten die Bedeutungslosigkeit der politischen Rhetorik der Türkei, der EU und der USA. Sie hatten eine „rote Linie“ für den Einsatz chemischer Waffen durch das Regime gezogen, als sei alles andere jenseits dieser Linie irrelevant. Damit gaben sie dem Regime grünes Licht für die Eskalation von Gewalt und Belagerungen gegen das Volk, änderten so die Kräfteverhältnisse und alles begann zu zerfallen.

 

8.1.2014, Altstadt von Homs, die Schlacht der Mühlen

Es war nicht geplant gewesen, dass sich die Dinge so entwickelten. Zwei Gruppen sollten sich durch Abwassergräben und Tunnel zu den Mühlen schleichen und von dort mit Mehl zurückkommen. Nach zwei Jahren Belagerung waren bei allen die Vorräte erschöpft und es gab nichts mehr zu essen.

Nach Monaten der Planung und Vorbereitung und des Grabens von Tunneln gelang es einer der beiden Gruppen jedoch nicht, rechtzeitig ihr Ziel zu erreichen. Die andere Gruppe wartete auf die erste und hing fest, ohne dass sie miteinander kommunizieren konnten. Es kam zu einer Belagerung innerhalb der Belagerung und die Mitglieder der zweiten Gruppe befanden sich in einer ausweglosen Falle. Ein Panzer der Armee versperrte ihnen den Fluchtweg und die anderen, die im Tunnel steckten, konnten hören, wie mehr als 24 Stunden lang auf sie geschossen wurde. Man zerstörte die Lagerräume, in denen sich die Mitglieder der Gruppe versteckt hatten, und metzelte sie nieder.

 

Während du, Dima, weinend auf einem Bett in einer alten Wohnung in der Oranienstraße in Berlin lagst, wartete ich angespannt in einer Untergrundklinik darauf, dass jemand zurückkam. Irgendjemand!

Nur ein Einziger kehrte nach drei oder vier Tagen zurück. Er war durch Wasser und Schlamm im Bewässerungskanal von Homs gekrochen und konnte mit dem Rest seines Verstandes nur noch bruchstückhaft wiedergeben, was er gesehen hatte.

An diesem Tag wurden 63 junge Menschen getötet, darunter auch zwei von Al-Sarouts Brüdern.

Wir hatten nicht erwartet, dass die Dinge so verlaufen, dass sich alles so entwickeln würde!

Einige Wochen später brach die Belagerung zusammen und es wurde durch Vermittlung der UNO vereinbart, die erschöpften noch verbliebenen Bewohner*innen der belagerten Viertel und die lokalen Brigaden in die Dörfer nördlich von Homs umzusiedeln und das Gebiet an das Regime zu übergeben.

Zu dieser Zeit verließ auch ich die Stadt und reiste isoliert und allein über Tripolis nach Beirut. Ich erkannte, wie frei ich innerhalb der belagerten Stadt gewesen war und wie belagert außerhalb.

Auch du warst auf dem Weg zurück von Berlin nach Beirut. Innerhalb von zehn Tagen musstest du entscheiden, in welche Richtung dein Leben gehen sollte. Wir trafen uns dort an einer Ecke in der Hamra-Straße. Ich erinnere mich nicht an diese Begegnung, ich stand immer noch unter Schock. Jahre später trafen wir uns erneut in Berlin. Seither sind viele Leben vergangen und wir haben nie über all das geredet. Aber manchmal umarmen wir uns und wünschen uns, lange zu weinen.

Und dann weinen wir.

 

* Abdul Baset Al-Sarout wurde 2019 bei einer militärischen Operation gegen das syrische Regime nahe Hama getötet. Er war 27 Jahre alt. Bis heute singen die Syrer*innen seine Lieder und demonstrieren noch immer gegen das Assad-Regime.

 

Weitere Texte von Dima Albitar Kalaji

Dieser Text entstand im Rahmen der Weiter Schreiben Intervention "Höchste Zeit für Imagination" am 25. September 2024 im Deutschen Historischen Museum.

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