Verletzliche Tresore
Laudatio für Sam Zamrik von Sylvia Geist, anlässlich der Preisverleihung des Wunderblock Award durch die Wunderblock Foundation in Berlin am 14. Oktober 2022
„Alles van waarde is werloos.“ „Alles Wertvolle ist wehrlos.“ Wer den wohl berühmtesten Vers des niederländischen Dichters Lucebert googelt – etwa um herauszufinden, ob das niederländische „werloos“ tatsächlich mit „wehrlos“ oder vielleicht doch eher mit „schutzlos“ zu übersetzen sei – stößt auf ein Foto, auf dem die Worte in Neonbuchstaben am Gebäude einer Versicherungsgesellschaft in Rotterdam prangen. Lässt sich die Scheinrationalität, der ganze Illusionscharakter des Prinzips „Versicherungsschutz“ ironischer auf den Punkt bringen als durch diesen Vers, der platziert auf einem solchen Gebäude ein schockierendes Dilemma sichtbar macht? Entweder ist das, was sich versichern lässt (einschließlich menschlichen Lebens), in Wirklichkeit gar nicht so wertvoll, oder das Wertvolle ist unmöglich zu versichern, weil es gegen drohende Gefahren grundsätzlich nicht zu schützen ist - was das Angebot, es doch zu tun, als Augenwischerei, wenn nicht als Betrugsversuch entlarvt, zumindest aber sein Ridikül offenlegt.
Fest steht, dass der Vers Luceberts gerade an diesem profanen Ort etwas leistet, wozu so nur Kunst in der Lage ist: er stellt Begriffe in Frage, ja auf den Kopf, indem er sie in unerwartete Beziehung setzt.
Folgt man Lucebert, dann ist Wehrlosigkeit, Schutzlosigkeit, untrennbar mit Wert verknüpft, ist die Voraussetzung, die conditio sine qua non von Wert überhaupt. „Alles von Wert ist wehrlos“ – ohne Ausnahme. Das muss wahr sein und bleiben, es muss unbedingt ver-wahrt bleiben, denn würde etwas durch sein Angegriffensein, seine Verwundung entwertet, dann wäre das die letzte, die totalitäre Täter-Opfer-Umkehr.
Trotzdem: es scheint etwas Widerständiges in der Wehrlosigkeit zu geben, eine paradoxe Qualität der condition humaine, und dieses Trotzdem bildet auch den Glutkern der Gedichte Sam Zamriks, der heute mit dem ersten Wunderblock Award geehrt wird.
In Deutschland beginnen wir gerade erst zu lernen, wie angreifbar wir sind, als Kollektiv und als Einzelne. Angreifbar zu sein, wehrlos womöglich, passt nicht in das Konzept neoliberaler Gesellschaften und der Selbstoptimierungsideologie, von der viele ihrer Individuen geprägt sind. Verletzlichkeit, Wehrlosigkeit gar, stehen nicht hoch im Kurs. Viel ist in diesen Tagen von Resilienz die Rede, abgeleitet von resilire wie „abprallen“, „nicht anhaften“. Der Wunsch, Bedrohliches von sich abprallen zu lassen, ist so verständlich wie alt, er spiegelt sich im Kettenhemd wie im Traum vom Maschinenmenschen bis hin zur Vision eines vom Körper befreiten, in einer gigantischen Datenbank sicher aufbewahrbaren Ich-Bewusstseins. Aber das, was dieses Bewusstsein ermöglicht, was Erfahrungen machen, träumen, lieben, Lust empfinden kann, kann nun mal auch frieren und bluten, kann Gewalt ausgesetzt sein. Davon, was es heißt, eben nicht resilient zu sein, stattdessen aller Privilegien entkleidet, mächtigeren Kräften und Umständen ausgeliefert, schutzlos, dürfte den meisten von uns mangels entsprechender Erfahrung eine klare Vorstellung fehlen.
Wer wäre ich, wenn ich dessen beraubt würde, über das ich mich definiert habe? Wenn ich verlöre, was mich schützte, mein Heim, meine Familie, meine Freunde, meine Rechte, meine durch alle möglichen äußeren Instanzen einschließlich der dazu gehörigen Behördenstempel bestätigte Identität? Wenn niemand wüsste, wer ich bin, wüsste ich es dann noch?
So illusorisch Sicherheit auch ist, so habe ich doch immer in ihr gelebt, ich habe auf diese Fragen keine Antworten. Ich schätze mich glücklich, sie in den Gedichten von Sam Zamrik zu finden.
„[…] Du sagtest, dass ich ein Leben sei, ein Körper, irgendein Anrecht; dass ich eine Stimme sei, ein Vorgang; dass ich ein Kind sei, ein Sohn, irgendein Typ […] Das alles bin ich nicht. Ich fragte mich selbst, wer ich bin. Ich stehe, sagte es, auf Null, bin Anfang.“, schreibt Sam Zamrik in „Wer“, dem ersten der in Englisch und zum Teil bereits in Deutsch verfassten Gedichte seines Debütbandes unter dem Titel „Ich bin nicht“.
Ein Ich auf Null, das sich der Identifikation mit den Zuschreibungen von außen verweigert und sich auf Anfang sieht: welch ein Kraft -, welch ein Sprachakt! Einer, der den Blick auf Wert verändert: „Null“ ist mitnichten „Nichts“, sondern ein Ausgangspunkt.
Damit denken Sam Zamriks Gedichte den Vers von Lucebert weiter, zeigen dessen radikale Dimension auf: Auch meine Identität, mein Ich ist nicht sicher, es kann mir entfremdet, mir abgesprochen werden. Aber wenn die Formel „Alles Wertvolle ist wehrlos“ stimmt, dann geht sie auch in der Umkehrung auf, dann ist dieses Ich am wertvollsten im Moment seiner äußersten Verletzbarkeit, am Rande der Auslöschung, eben dann, wenn es auf Null steht. Wenn es sagt: „Das alles bin ich nicht“, oder sogar: „Ich bin nicht.“, gerade in diesem Moment widersetzt es sich den Zumutungen und kann eine Hoffnung hegen, die, wie Sam Zamrik in seinem Gedicht „Ich will“ schreibt, „nicht am Boden eines Glases liegt und mir allein mein Nicht-Gesicht zeigt.“ Das Ich auf Null, das Anfangs-Ich, kann neu gefunden, erfunden werden.
Es kann nicht darum gehen, sich unverwundbar zu machen, denn Sinneswahrnehmung und Unverwundbarkeit schließen einander aus: „Ich will … einen Fick am späten Morgen. Drei Löffel Zucker in den Kaffee. Das Stechen der Sonne spüren auf meiner Haut und wie sie sich abkühlt durch einen Lufthauch Mitte August … Ich will, dass es wehtut in den Augen und im Fleisch. Ich bin gut Freund mit allen Schmerzen […]“
In intensiven Bildern offenbart sich dieses Ich als ein sich neu zusammenfügendes und multiples, ein durch die kriegszerstörten Straßen von Damaskus wandelndes, als ein angreifbares, ein ebenso verkörpertes wie transzendiertes Ich, in dessen Verwandlungen sich Verwundung und Selbstbehauptung immer wieder verbinden, in Versen wie diesen aus dem Gedicht „Stückwerk“:
„[…] Mein Kopf ist die Sonne. Eine Löwenmähne mein Haar, ihr wildes Strahlen hält meinen Blick nach vorne und nach unten. Mein Hals ist der Stumpf eines bedürftigen Immergrüns. Ich trage einen Buckel auf dem Rücken.“
Nicht nur für Selbsterfindung findet Sam Zamrik Worte, auch für die Verluste, die sie erzwingen. Seine Gedichte legen diese Verluste Schicht um Schicht frei. Lakonisch in der Wortwahl und leidenschaftlich in ihrem Sound erzählen sie davon, wie es aussieht, riecht und schmeckt, wenn das Leben zum Überleben wird, wie in „A State“: „There is no light in the bulbs, nor water out the faucet. / There is no warmth in the walls, nor heavy wool in the closet. / There is no flesh on the olives, only rancid pits and moldy bread. / There is no end to the fire, only charred bits from a million dead. […]“
Sie schildern uns die immensen Fliehkräfte eines Herkommens: „[…] Mutter nahm mir die Zunge. Vater starb unbesungen. Von zu Hause ausgespien, ausgekotzt vom Meer.“
und sie sprechen von den Schatten, die das Entkommen in Gestalt des Erinnerns werfen kann: „[…] Wellendurchnässt und verdorrt, salzig und morsch: Ich halte die Schlüssel zu einem Gefängnis fest, das es nicht mehr gibt.“
Sie erzählen auch von den Mühen nicht des Ankommens, sondern eines Irgendwo-Hinkommens, von den zermürbenden Absurditäten einer Bürokratie, deren widersinnigen, wenn nicht gänzlich sinnentleerten Sprech Zamrik in seinem gleichnamigen Gedicht zu einer fast schwerelos daherkommenden Sprach- und Gesellschaftskritik von kafkaeskem Witz zuspitzt:
„[…] »Tell theirs to tell them / to tell you to tell me / what they need to tell me, to tell you what you want.«
Vorhin sagte ich, ich schätzte mich glücklich, in Sam Zamriks Gedichten Antworten zu finden. Das mag hochfliegend klingen, oder, schlimmer noch, naiv. Jedenfalls läuft es einer bestimmten Routine hinsichtlich des Blicks auf Poesie zuwider. Will man etwas Gutes über Gedichte sagen, wird gern von Fragen gesprochen, die sie stellten, als wären Gedichte einer Art Etikette verpflichtet, nach der sie ihre Stimme nicht gar zu entschieden zu erheben hätten, als käme es ihnen nicht zu oder als fehlte ihnen die Zuständigkeit für über die Frage hinaus strebende, mehr Verantwortung auf sich ladende Formen der Äußerung, als hätten sie das Risiko zu scheuen, sich selbst befragbarer zu machen. Als wäre von Kunst nicht noch ganz anderes zu erwarten.
Sam Zamriks Dichtung stellt Fragen, nicht zuletzt solche, die auch einige der politischen Entscheidungen und gesellschaftlichen Fehlentwickungen hierzulande betreffen. Doch darüberhinaus tun seine Gedichte etwas Unerhörtes. Sie geben Antwort. Sie haben den Mut, sich ihrem Ich-Sagen verantwortlich zu zeigen. Sie tun das in einer Klanglichkeit, die dem Gezeigten Puls und Atem gibt, und in Bildern, deren schmerzliche Konkretheit und lebendige Sinnlichkeit ihresgleichen suchen. In einer expressiven, leuchtenden, oft verzweifelt zärtlichen, immer kraftvollen Sprache, die das Wagnis der Schönheit eingehen kann, weil sie uns sehen lässt, wann und wie Schönheit entstehen kann, und warum: selbst und gerade in Not singen Sam Zamriks Gedichte ihr Trotzdem.
Wie verletzliche Tresore – und welcher Tresor wäre das nicht? - bergen sie das, was uns bedroht, auf eine Weise, die uns an den Wert unserer Schutzlosigkeit, unserer Wehrlosigkeit erinnert. Sie versichern uns der Möglichkeiten einer Kraft, die wie der Vers auf jenem Gebäude in Rotterdam ein Schlaglicht auf die Dilemmata und Paradoxien dieser Welt wirft, und die er mit uns teilt: die Kraft der Sprache. Sie sprechen unserer Menschlichkeit den Wert zu, der in unserer Verletztlichkeit besteht, weil eben sie es ist, die uns zu Erfahrungen befähigt, zu Entscheidungen und immer wieder zu einer Hoffnung, die die Scheinrationalität von Versicherungsgesellschaften nicht braucht.
Danke, lieber Sam, dafür. Danke für deine Gedichte, die heute auch zu meiner großen Freude mit dem ersten Wunderblock Award ausgezeichnet werden. Möge dieser Preis dazu beitragen, dass sie immer weiter getragen werden und weithin Gehör finden.
Sylvia Geist
Die Zitate stammen aus Sam Zamriks zweisprachigem Gedichtband „Ich bin nicht“ (Hanser Berlin, Berlin 2022), übersetzt von Heike Geißler, Sylvia Geist, Björn Kuhligk, Monika Rinck und Ulf Stolterfoht.
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