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Jeden Tag weinte ich auf dem Platz der Revolution

Osama Al-Dhari an Joachim Sartorius

Aus dem Arabischen von Jessica Siepelmeyer

Donnerstag, den 28.5.2020

Heinrich-Böll-Haus, Langenbroich

Lieber Joachim Sartorius,

ich habe Deinen Brief erhalten, in dem Du Enttäuschung über die verschobene Lesung in Berlin äußerst, auf die auch ich sehr gespannt war. Außerdem sprichst Du von der Schwierigkeit, einer unbekannten Person zu schreiben. Aber von Briefen einmal abgesehen, ist das, was wir schreiben, ja immer an Menschen gerichtet, die wir nicht kennen.

Ich freue mich über unsere Korrespondenz. Als ich Dein Foto sah, fühlte ich mich an meinen Großonkel Ahmad al-Zubairi erinnert, durch den ich „Die Blechtrommel“ von Günter Grass und „Der Steppenwolf“ von Hermann Hesse kennenlernte und so an die deutsche Literatur herangeführt wurde. Über 25 Jahre hat er in Deutschland gelebt, erst als Student, dann als Mitglied des jemenitischen Diplomatenkorps. Er war mit Günter Grass befreundet. Ich weiß nicht warum, aber ich glaube, Du kennst ihn.

Ja, ich erinnere mich an die Veranstaltung, die Du in Deinem Brief erwähnst. Zu der Zeit las ich regelmäßig Kulturjournale, in denen ich dann auch veröffentlichte. Ich war sechzehn oder siebzehn Jahre alt. Wenn ich mich nicht täusche, war Günter Grass auch dabei. Vielleicht meine ich aber auch einen anderen seiner Besuche in jenem Jahr, ich bin mir nicht sicher. Woran ich mich aber noch genau erinnere, ist mein Eindruck damals. Das politische System versuchte sich in positivem Licht darzustellen, indem es kulturelle Veranstaltungen durchführte – wobei es sich für den Kulturaustausch eigentlich nicht interessierte, wie an der Polizeieskorte deutlich wurde, die man Euch zur Seite stellte.

Mit Deinem Brief kamen zwei Bücher, die ich sofort las. Zuerst „Hôtel des Étrangers“, dann „Die Prinzeninseln“. Der Übergang von dem einen zum anderen war sanft. Ich hatte das Gefühl, Dich auf der Insel zu begleiten. Die kleinen Details schienen zu sprechen und umherzuwandeln, sie spiegelten mir zwischen den Zeilen eine facettenreiche Realität, insbesondere in den Erzählungen von „Selcuk“. Der Titel „Hôtel des Étrangers“ trifft mich, denn ich habe die sechs Jahre vor meiner Ankunft in Deutschland in Hotels und übergangsweise in diversen Wohnungen verbracht, immer in Wartestellung, immer voll Angst.

Über Deine Anmerkungen zu meinem Text habe ich mich gefreut. Ich werde Dir noch etwas von mir schicken, das auf Initiative der Heinrich-Böll-Stiftung übersetzt wurde. Was Du sagst, trifft absolut zu. Politik spielt in den meisten meiner Texte eine Rolle. Nur mit Ironie können wir dem Schmerz spielend begegnen. Das Lachen gleicht dem Weinen, wie Mutanabbi sagt.

Du erwähnst in Deinem Brief den Besuch im Jemen. „Deine Heimat“ schreibst Du, was mich bewegt hat. Du hast damit stilles Wasser aufgewühlt. Ich, geboren in eine Familie voller politischer Widersprüche und verschiedener Zugehörigkeiten, war schon immer mit Identitätskrisen konfrontiert. Diversität ist meiner Ansicht nach gut und wichtig, denn sie bedeutet kulturelle und intellektuelle Bereicherung. Das politische System dagegen reduzierte die Verbundenheit zum Heimatland auf Loyalität zum machthabenden Diktator. Das Gefühl von Identität und Zugehörigkeit kam mir abhanden, ich sah mich nicht mehr als Teil der „Heimat“. In diesem Zusammenhang schrieb ich einen Text mit dem Titel „Ich glaube nicht an dieses Land“. Das war 2006, als die Hoffnung auf einen demokratischen Wandel endete, besonders nach der Wahlfarce, als der Diktator die Macht beanspruchte, wir den Glauben an die Opposition und jede Hoffnung verloren. Die große Chance sahen wir im Februar 2011, wir konfrontierten den Diktator mit unseren Träumen. Jeden Tag weinte ich auf dem Platz der Revolution, wenn ich der Nationalhymne lauschte, als hörte ich sie zum ersten Mal. Erst dort, inmitten der Revolution, habe ich meine Identität gefunden. Leider ahnte sie, also die Revolution, nicht, was kommen würde. Sie verlor, und ich verlor einen Seelenverwandten, meinen Freund Issa Al-Shami, getötet von Scharfschützen des Regimes. Ich benannte nach ihm meinen Sohn, der jetzt mit mir in Deutschland lebt. Identität ist für mich immer mit einer existenziellen Krise verbunden, denn Heimat ist kein geografisches Gebiet aus Erde und Stein, erst die Menschen machen sie aus. Es ist kein Geheimnis, dass ich mich nach dem Jemen meiner Kindheit und dem Jemen meiner Träume sehne. Ich möchte in den beiden Jemen die Menschen sehen, die mir am Herzen liegen. Sie sind für mich der eine Jemen, im Gegensatz zu dem Jemen, den man aus den Nachrichten kennt. Sollte das aber nicht stimmen, will ich mein Gedächtnis verlieren und vergessen.

Ich freue mich darauf, Dich zu treffen oder von Dir zu hören. Leider reicht mein Deutsch nicht aus, Dir direkt zu schreiben. Es geht nur langsam voran, aber ich bemühe mich und arbeite daran. Deutschlernen macht Spaß. Es ist dem Arabischen ähnlich, denn es ist ebenfalls eine flektierende Sprache.

Lass es Dir gut gehen!

Freundliche Grüße

Osama Al-Dhari

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