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Weiter Schreiben heißt weiter leben

Laudatio von Aleida Assmann im Rahmen der Verleihung des Hermann Kesten-Förderpreis des deutschen PEN-Zentrums für Weiter Schreiben

Weiterschreiben ist das Grundprinzip literarischen Schreibens überhaupt. Alle Autoren und Autorinnen waren bewusst oder unbewusst von dem inspiriert, was bereits geschrieben war. Nicht jeder hat sich dazu bekannt, zum Beispiel das Originalgenie Goethe. „Hätte ich aber so deutlich wie jetzt gewusst, wie viel Vortreffliches seit Jahrhunderten und Jahrtausenden da ist, ich hätte keine Zeile geschrieben, sondern etwas anderes getan.“ Die Kunst braucht aber Formen der Rückversicherung. Eine neue Form hat Sharon Dodua Otoo, eine britisch-deutsche Autorin mit ghanaischen Wurzeln grade erfunden. In ihrem Roman Adas Raum hat sie Texte von Virginia Woolf weitergeschrieben und dabei Wände zwischen der nördlichen und der südlichen Hemisphäre durchbrochen, um Kulturräume miteinander zu verknüpfen. Das Motto ihres Romans ist ein afrikanischer Spruch: „Kehr um und hole es dir! Es ist nicht verboten umzukehren, um zu holen, was du vergessen hast. Lerne aus Deiner Vergangenheit.“

Annika Reich hat das Wort Weiterschreiben auseinandergenommen und damit ein neues Projekt gestartet. Es fängt ja alles mit Worten an. Angela Merkels historischer Satz: ‚Wir schaffen das!‘, der als Ermutigung gemeint war, wurde bald als Zumutung verstanden und in einer Dauerdiskussion zerrrieben. Annika Reich hat diesen Satz 2015 durch einen anderen ersetzt: ‚Wir machen das!‘ Wir, das ist ein Netzwerk von 100 Frauen, die sich etwas in den Kopf gesetzt und in die Hand genommen haben. Wo ein historischer Bruch entstanden war, kümmerten sich die Gründerinnen um Kontinuität. Mit ihrer sachlichen Ansage haben sie dabei ganz neue Formen der Ansprache eröffnet. Geflüchteten verlieren ihre Passivität als ‚dritte Person‘, über die bestimmt wird, und werden zum Ich und Du. Über Grenzen hinweg sind auf diese Weise Kontakte und Verbindungen entstanden, die Menschen stärken und die Muskeln Europas aktivieren.

Annika Reichs Projekt ist auf Grenzüberschreitung angelegt und damit eine direkte Antwort auf die grenzüberschreitende Gewalt in Kriegs- und Krisengebieten. Angesichts dieser Gewalt kann jeder und jede akut hilfsbedürftig werden, aber das ist kein Status, in dem man dauerhaft verbleiben möchte. Man wird hier nicht nach dem beurteilt, was einem fehlt, sondern nach dem, was man mitbringt. Erst wenn Menschen gehört, anerkannt, gebraucht und einbezogen werden, wird es möglich, auch gemeinsam etwas zu verändern. Alleine geht das nicht. Abgeschnitten von Ressourcen, Kontaktmöglichkeiten und vor allem von Lesern versiegen die Energien und Kräfte der Schreibenden. Die im neuen Land Angekommenen brauchen Übersetzer und Türöffner, die ihnen Arbeitskontakte und Teilhabe im Kulturbetrieb ermöglichen; aber auch diejenigen, die nicht reisen und keine Grenzen überwinden können, brauchen in der kulturellen und politischen Isolation Zwiegespräche und Austausch wie die Luft zum Atmen.

Die Kunst lebt weiter – trotz Krieg, Verfolgung, Unrecht und Gewalt. Genau das ermöglicht das Projekt ‚Weiter Schreiben‘, das inzwischen sein 5-jähriges Jubiläum gefeiert hat. Von Garten zu Garten oder Küche zu Küche werden Zwischenräume geöffnet und bespielt, in denen sich überraschende Verbindungen auftun. Im Wort- und Ortwechsel springen die Gedanken hin und her und Orte werden imaginär angeeignet. Gleichzeitig entstehen neue Themen und Formate, die im Angesicht von Kriegen, Krisen und Umbruchssituationen aufblühen. Poesie ist ein anderes Medium als der kurze Takt der täglichen Nachrichten. Sie erlaubt einen nahen und sinnlichen Blick auf Menschen, die ihre Umwelt, ihre Gedanken und Erfahrungen im Austausch mit anderen neu vermessen. Wir erleben Geflüchtete hier nicht als Bedürftige, sondern als Mitmenschen, Künstler und Kulturträger mit dem ganzen Reichtum ihrer Sprachen, Traditionen und Geschichten. Aber auch subversive KulturträgerInnen wie zwei Frauen aus Ex-Jugoslawien und Südsudan, die sich über die Fesseln des Küchen-Regimes austauschen und gleichzeitig gestehen: „Wenn ich mich ins Schreiben vertiefe und nicht meinen Kindern bei den Hausaufgaben helfe, fühle ich mich schuldig.“[1]

Das Netzwerk für Exil-Autoren vergrößert sich stetig. Aus ‚Weiter Schreiben‘ ist ‚Europa weiter schreiben‘ geworden. Exilautoren, die ihre Sprache und Leserschaft verloren haben, erleben heute, was andere Exilautoren vor ihnen erlebt haben. Der jüdische Exilautor Erich Auerbach zum Beispiel erzählt die Anekdote von einem jüdischen Geiger, der sich darüber beklagte, dass sein Instrument in den USA nicht mehr denselben Ton produziert. Andere Exil-Autoren sprachen davon, dass sie ‚echolos‘ geworden seien. Ihre Sprache und Bildung gab im Exil plötzlich nichts mehr her. Ihr kultureller Resonanzraum war durch Verfolgung und Flucht zerstört worden. Aus dieser Erfahrung entstand damals ihre Utopie einer ‚Weltliteratur‘. In Annika Reichs Projekt gibt es Mittel und Wege, die es für AutorInnen damals nicht gab. Zum Beispiel ein online Literaturportal für den literarische Austausch von emails und Textnachrichten, ein Printmagazin, Bilder, podcasts und Hörbücher. Daraus entsteht gerade eine vielsprachige Weltenliteratur zwischen Eritrea und Belarus, Burkina Faso und dem Iran, Syrien und der Ukraine.

Kein Ort. Nirgends – so heißt ein Roman von Christa Wolf über den gemeinsamen Selbstmord von Heinrich von Kleist und Caroline Günderode. Darauf nimmt ein anderer Titel Bezug: Kein Land. Nirgends? Das ist eine Textsammlung von Geflüchteten und Exilautoren aus dem Deutschland der NS-Zeit und heute, die grade zur Buchmesse erschienen ist. ‚Einen Raum für sich selbst‘, wünschte sich Virginia Woolf, und sie meinte damit nicht einen Ort der Einsamkeit, sondern einen Ort des Rückzugs aus einer von Männern definierten Welt.  Das Projekt Weiter Schreiben knüpft an all das an. Es schafft einen Schutzraum, der aus Flucht, Exil und Einsamkeit herausführt, in dem persönliche Verbindungen hergestellt werden. Damit - und das ist das Entscheidende in einer von Hass, Polarisierung und Gewalt zerrissenen Welt – wird Vertrauen aufgebaut. Künstler, die durch Kriegsgewalt von der Welt und durch erlittene Traumata von ihrer eigenen Kreativität abgeschnittenen sind, bekommen einen Brief-Partner, einen Adressaten und Leser, mit dem sie ihre Wahrnehmungen austauschen, Gedanken entwickeln und auf diese Weise ihr Selbst zurückgewinnen können.  In äußerster Einsamkeit und Ausgesetztheit, weit weg im dominikanischen Exil, schrieb einst die Lyrikerin Hilde Domin:

Ich setzte den Fuß in die Luft,

und sie trug.

Sie entdeckte damals den Luft-Raum des Dichtens und Schreibens als ihren Raum des Überlebens. Heute vermittelt Weiter Schreiben in dieser Situation einen Briefpartner und Begleiter. Es öffnet sich ein Fenster und danach vielleicht noch eine Tür. So entsteht eine Perspektive und damit auch Hoffnung. Im Zwiegespräch bekommt man wieder Boden unter die Füße. Die luftigen Sprachgebilde festigen sich im Rahmen einer gemeinsamen Welt.

Während in den unsozialen Massenmedien die Denkräume immer enger, bornierter und gefährlicher werden, bilden sich hier über Grenzen hinweg zwischenmenschliche Kontakte. Sie machen es möglich, das Wort zu ergreifen, Gehör zu finden und sich auszutauschen im Dialog. Jede dieser künstlerischen Tandem-Synapsen ist ein Veto gegen den Krieg als Mittel der Politik und weist den Weg in eine gemeinsame Zukunft.

Weiter Schreiben wächst von Jahr zu Jahr. Das Projekt kann weitere Unterstützung gebrauchen, aber auch Preise, um noch sichtbarer zu werden. Herzlichen Glückwunsch an Annika Reich und alle, die inzwischen in diesem einmaligen Aktionsbündnis verknüpft sind! Schreibt weiter, denn weiter schreiben heißt weiter leben!

[1] Stella Gaitano, Salzt uns!  Weiter Schreiben Magazin 3, August  2021, 14.

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