Ali
Zwanzig Pfund und eine halbe Stunde in einer der Hütten von Bir Masoud waren alles, was Ali aufbringen konnte, um mit Zainab zu schlafen. Schon seit Jahren hatte er sich gewünscht, es würde ihm gelingen, diesen Ruf loszuwerden: „Du Frau!“
Sie hatten ihn verspottet und er hatte sich zuerst geärgert, doch dann hatten sich seine Ohren an die Worte gewöhnt. Seine Gefühle hatten die ganze Zeit seine widersprüchlichen Gedanken darüber genährt, wie er sich selbst sah. In seinem Innersten wusste er, dass er nicht wie seine Freunde und andere Jungen in seinem Alter war. Er war auch nicht so, wie Souad ihn beschrieben hatte, die Frau seines Vaters, die ihn nach dem Tod seiner Mutter großgezogen hatte. Vielleicht hatte sie gespürt, was für ein Mann Ali werden würde, aber sie hatte diesen Gedanken immer wieder vertrieben. Ali war sich nur einer Sache sicher: Jedes Mal, wenn er in den Spiegel schaute, blickte ihn jemand an, den er nicht kannte.
In dieser Nacht war Ali eine ungewöhnliche Idee gekommen. Sie schien eine Möglichkeit zu sein, seiner Ächtung ein Ende zu setzen. Die schmale Gasse hinter den Wohnblöcken in der Masaken Al-Amrikan-Straße war gefüllt mit Müll und den Abfällen der Geschäfte, die die Häuser umgaben. Die Leute mieden sie wegen des üblen Gestanks. Aber Ali nahm diesen Weg, um den Blicken der Menschen auf den anderen Straßen zu entgehen und ruhig nach Hause zurückkehren zu können. Die Gasse stöhnte in dieser Nacht mit einer Stimme, die er kannte. Sie drang aus einem kleinen weißen Fiat, der jemandem von außerhalb des Viertels gehörte, und klang mit zunehmendem Tempo hektischer.
Zainab wohnte nicht in diesem Viertel, aber sie war immer dort, als sei es ein zweites Zuhause für ihre Koketterie, ihr frivoles Lachen, ihren kurzen Rock und ihr gefärbtes Haar, das sie oben zusammenband. Nur eine Locke fiel auf der rechten Seite herab und blieb immer wieder an ihren langen Wimpern hängen, so dass sie sie wegstreichen musste. Sie stellte sich ans Ende der Straße, schaute in den Spiegel und rückte ihr Haar zurecht. Dann öffnete sie die Knöpfe ihrer engen Bluse, umrandete ihre Lippen mit einem schwarzen Kajalstift, wie es gerade Mode war, und warf unbekümmert einen letzten Blick in den Spiegel, ohne sich um die unbehaglichen Blicke um sie herum zu scheren.
Niemand wusste, woher sie kam und wohin sie an manchen Tagen verschwand, aber meistens war sie da. Sie ging von Haus zu Haus, um den Frauen die Augenbrauen zu zupfen und Zucker und Wasser in einem Topf auf den Herd zu stellen, um Zuckerpaste herzustellen. Damit entfernte sie den Frauen am Donnerstagabend die Haare. Manchmal verkaufte sie rote und rosafarbene Lippenstifte zu günstigen Preisen und in schönen Formen, die den Bräuten gefielen. In jedem Haus im Viertel gab es einen Lippenstift mit einem goldfarbenen Gehäuse in Form eines Pfaus, dessen Schwanz sich sanft bog.
Man hörte Zainab im Auto atmen und stöhnen unter dem Gewicht von jemandem, von dem nur das lockige Haar und der füllige Körper zu sehen waren. Die Szene wurde von Fayza Ahmeds Stimme begleitet, die aus dem Autoradio kam, jedoch nicht laut genug war, das Stöhnen und das Geräusch des vibrierenden Wagens zu verbergen.
Als Ali sie sah, blickte sie ihn herausfordernd an. Es war kein verzweifelter Blick, wie er der Situation angemessen gewesen wäre, wo doch keiner wissen sollte, welchem Gewerbe sie nachts nachging. Es schien eher, als hätte sie sich mit seinen Freunden verschworen und wollte ihn verspotten, indem sie seine Identität bloßstellte. Er hatte nie gezeigt, dass sie ihm gefiel. Er fürchtete den Blick aus ihren großen schwarzen Augen, die sie mit mehreren Kajalschichten umrandet hatte, um ihnen Tiefe zu verleihen. Doch er beschloss, die Gelegenheit beim Schopfe zu packen, und so wartete er am Ende der Gasse einige Minuten, bis der Besitzer des Autos fertig war und losfuhr. Als Zainab ausstieg, hatte Fayza Ahmed gesungen:
„Warum fragst du nach mir
und sagst, dass du Sehnsucht nach meinen Augen hast?“
Zainab strich ihren engen Rock glatt, trug Lippenstift auf ihre schmalen Lippen auf, richtete ihr gefärbtes Haar und machte sich auf den Weg, begleitet vom monotonen Rhythmus ihrer Absatzschuhe. Sie sah Ali am Ende der Gasse und verabredete sich eilig mit ihm, damit er darüber schwieg, was sie am Ende der Nacht in den Gassen des Viertels tat.
Alis Geld war nicht wichtig für sie und sie kümmerte sich auch nicht darum, was sie von den Leuten in den Häusern und Schlafzimmern über ihn hörte. Er war ein interessantes Gesprächsthema für die Frauen und Mädchen, die seine offensichtliche Schönheit bewunderten. Aber die Fragen, die sich ein jeder über ihn stellte, ließen alle darauf bedacht sein, dass ihr Ruf nicht mit ihm in Verbindung gebracht wurde. Sie erzählten davon, wie er nachts mit Lippenstiftspuren auf dem Mund und geglättetem Haar schwankend nach Hause kam und dass sein Bruder Sayyid sich von ihm abgewandt hatte und kaum noch ins Viertel zurückkehrte.
Auch Zainab gefiel seine Schönheit. Bei den Männern aus den untersten Schichten der Gesellschaft, mit denen sie schlief, und jenen, die nach schneller Befriedigung suchten, interessierte sie sich nicht weiter für ihr Aussehen, denn sie sahen ohnehin alle gleich aus. Genauso wenig schenkte sie deren übertriebenem Gerede von ihrer Männlichkeit Beachtung. Letzten Endes umarmte sie die Männer und stöhnte unter ihren Körpern, um ihnen zu bestätigen, welche Manneskraft sie hatten und welchen Eindruck sie auf sie machten. Ihr Körper hatte allmählich gelernt, sich zu verstellen, und wenn die Zeit eines Mannes um war, stieß sie ihn von sich, um nach dem nächsten zu suchen.
Mit seinen zarten Gesichtszügen, den braunen Augen, seiner glatten, bronzefarbenen Haut, dem weichen Haar und dem sauberen, schlanken Körper war Ali anders als jeder, den ihr Körper je gekannt hatte; diese „Geschmacksrichtung“ kannte sie noch nicht und wollte sie gern ausprobieren. Als Ali in dieser Nacht nach ihr verlangte, empfing sie ihn mit offenen Armen.
Vor ihnen tobte das Meer und hinter ihnen stand eine Reihe von Kabinen, die den Strand von Bir Masoud vor den Augen der Menschen verbargen. Die meisten sahen verlassen aus und an vielen Stellen blätterte die Farbe ab. Es waren kleine Räume mit einem Badezimmer und einer laut knarrenden Holztür. Doch das Rauschen des Wassers, das vom Meer durch die Öffnungen am Boden in den in der Nähe gelegenen Brunnen von Bir Masoud eindrang, übertönte das Geräusch der Türen. Es verbarg es vor den Menschen, die jene beobachteten, die hinabgestiegen waren und nach den Münzen im Brunnen tauchten. Einige Besucher des Brunnens hatten sie hineingeworfen, um ihn zu segnen, andere, um einen unerfüllbaren Wunsch erfüllt zu bekommen.
Als die Leute wegen der Kälte und der Dunkelheit gegen Mitternacht gegangen waren, flüsterte Ali dem Wächter zu, er solle eine Kabine auswählen, in der er einige Zeit mit Zainab verbringen könnte.
Der Wächter öffnete eine Tür am Ende der langen Reihe von Kabinen. Ali drückte ihm das Geld in die Hand und er und Zainab schlüpften hinein. Sie trug einen gelben Rock und eine enge Bluse mit Pflanzenmustern, die ihre weißen Schultern und ihr Dekolleté enthüllte. Um den Hals trug sie eine große kupferfarbene Kette und dazu ein goldenes Armband in Form einer Schlange, die ihren Schwanz im Maul hielt.
Zainab öffnete mit beiden Händen die Knöpfe der engen Bluse und tastete nach Alis Hand, um sie auf ihren weichen Körper zu legen, während sie mit der anderen Hand an den Knöpfen seines ebenfalls mit Pflanzenmustern bedruckten Hemdes herumnestelte.
Alis Herzschlag beschleunigte sich, als Zainab sich mit einer Hand an seinen Körper herantastete. Mit der anderen Hand schob sie ihren gelben Rock nach oben über ihre Schenkel. Sein Gesicht wurde heiß, als ihre Hand, die seinen Körper befühlte, zwischen seinen Schenkeln verharrte, und er schob sie von sich weg. Im Mondlicht, das durch das kleine Fenster fiel, enthüllte Zainab ihre Brüste und den Rest ihres Körpers. Er starrte sie lange an. Seine Augen, die sonst zu ergründen versuchten, was sich unter den Röcken und leichten Blusen der Frauen verbarg, hatten nun gesehen, was sie wollten, und er holte tief Luft. Er berührte seinen Körper, doch er schämte sich vor sich selbst und wich Zainab aus. Sie spürte seine offensichtliche Scham und näherte sich ihm, um zu vollenden, was sie begonnen hatte, doch er zuckte erneut zusammen und zog sich von ihr zurück.
Hastig brachte er seine Kleider in Ordnung und öffnete schnell die Tür, um davonzurennen und eine Schande zu hinterlassen, die er nie mehr würde auslöschen können.
Am nächsten Tag wurde das grüne Fenster von einem kühlen Windstoß geöffnet. Ali zitterte unter seiner Decke. Er rieb sich die Augen und verspürte eine starke Übelkeit. Er wandte sich dem kupfernen Kronleuchter zu, unter dem er schlief, und meinte zu halluzinieren, weil er letzte Nacht getrunken hatte, nachdem er von Zainab weggegangen war. Er rollte sich auf der Seite des Betts zusammen und schob die Decke ein wenig weg, um sich aufzusetzen. Er versuchte das Gleichgewicht zu halten, doch das Bett rutschte unter ihm weg und er fiel zu Boden. Von der Straße kamen Lärm und seltsame Geräusche herüber. Er spürte die kalten Bodenfliesen und fand sich schließlich unter dem Bett inmitten des dort angesammelten Staubs wieder.
Nach einigen Momenten, in denen er die Anspannung spürte, die in der Luft lag, ging er aus seinem Zimmer zum kleinen Fernseher im Wohnzimmer. Auf dem Bildschirm sah er Aufnahmen von zerstörten Gebäuden, schreienden Frauen und schluchzenden Menschen, die sich um die Opfer drängten, die in den Ruinen der Gebäude eingeschlossen waren. Das Erdbeben war in der Hauptstadt sehr heftig gewesen, aber Alexandria war nur geringfügig betroffen. Hier waren lediglich einige alte Gebäude eingestürzt und obwohl Ali von der Atmosphäre des Todes erschüttert war, konnten die Angst und die Traurigkeit, die die Situation beherrschten, die Spuren der Schande der letzten Nacht nicht beseitigen.
Immer wenn Zainab ihn in den folgenden Tagen in einer Gasse oder auf einer Straße sah, verfolgte sie ihn mit ihren Blicken und der lautlosen Bewegung ihrer Lippen, die die Worte formten, die für alle Zeiten an ihm haften würden:
„Du Frau!“
* Der Text ist ein Ausschnitt aus dem Roman „Masaken Al-Amrikan“, 2021 erschienen im Verlag Dar El Shorouk.