Das Schreiben und der Wohnort München waren erstmal die einzigen Gemeinsamkeiten der beiden Autor*innen, doch schon beim ersten Treffen wurde klar, was sie vor allem verbindet: Die Offenheit, sich verbinden zu wollen.

Fridolin Schley über Yirgalem Fisseha Mebrahtu

 

Es ist bezeichnend, dass eins der bekanntesten Gedichte von Yirgalem Fisseha Mebrahtu seinen eigenen Titel zu widerlegen scheint; es heißt ausgerechnet: „I am not a poet“. Paradoxien begleiten Yirgalem, sie speisen ihre Literatur, aber mehr noch: Oft wirken sie wie ein Überlebensmittel. Über ihr Heimatland Eritrea sagt Yirgalem, es sei bekannt für das spurlose Verschwinden von Menschen. Auch sie war viele Jahre verschwunden, eingesperrt an einem sehr finsteren Ort, ohne Anklage, ohne Verfahren. Einmal wurde sie bei einem Verhör fast totgeschlagen. Aus dem Krankenhaus, in das man sie bewusstlos brachte, drang ihr Fall nach außen und wurde bekannt – was schließlich zu ihrer Freilassung führte. So hat es sie paradoxerweise gerettet, beinahe umgebracht worden zu sein. Viele andere sind unter ähnlicher Folter gestorben und für immer verschwunden. Ihre Angehörigen warten häufig noch heute auf sie.

Es gibt keine eritreische Familie, die nicht auf die eine oder andere Weise betroffen ist, sagt Yirgalem, es gibt keinen sicheren Ort, keine Nische – nicht einmal im eigenen Schweigen. Schon sich ganz still zu verhalten reicht, um verhaftet zu werden. Wer dem Regime nicht lippensynchron nachspricht, macht sich verdächtig. Das ist seine List. Wenn jeder jederzeit verfolgt werden kann, ist irgendwann eine ganze Gesellschaft wie von selbst gefesselt. Jegliches poetische Sprechen wird dann zu einem widerständigen Akt, von der Paranoia der Gewaltregierung mitunter erst selbst heraufbeschworen.

Vielleicht will sich Yirgalem keine Dichterin nennen, noch während sie dichtet, weil es für das, was sie erleben musste, keine Worte gibt, die nicht gleichzeitig „zum Grab meiner Gefühle würden“, wie es in dem genannten Gedicht heißt, weil vom äußersten Rand nur die Toten zeugen können und ihr das letzte „Ringen nach Luft“ nicht Lohn genug war, weil sie überleben wollte und überlebt hat. „Ich bin am Leben“: So heißt ein anderes Gedicht von ihr, wie viele weitere in Haft geschrieben – um nicht verrückt zu werden oder aufzugeben. Es ist auch der Titel ihres ersten Buchs auf Deutsch, das im November im Verlag Das Wunderhorn erscheint.

Können und sollen Texte die Gefühle, die ihnen zugrunde liegen, auch nie fugenlos passend wiedergeben, so rühren Yirgalems doch sachte an sie – und offener noch an die der Leser*innen. Es schert Yirgalem zum Glück nicht, ob dieses literarische Ur-Movens jemandem als sekundäre poetische Kategorie gelten könnte. Statt Hermetik oder verschlungene Hermeneutik sucht sie Details, die Emotionen wecken und halten können, auch im Sinne von aushalten, so leise kraftvoll sind sie. „Sollten der scheinbar nie endende Rauch | und der Nebel | sich auf mich legen, wie um mich zu lieben | werde ich doch morgen früh erwachen | anmutig und stolz | wie eine nach Myrrhe duftende Braut.“

Noch Jahre nach ihrer Flucht scheint Yirgalem vieles nur im Schreiben ausdrücken zu können, was sie sonst verschweigen, ja verleugnen müsste. Denn wie mit den Nächsten zu Hause unverstellt sprechen, ohne sie damit sogleich in Gefahr zu bringen? Oder mit den Angehörigen anderer Gefangener, ohne ihnen die Hoffnung zu nehmen? Könnte Yirgalem nicht schreiben, gewissermaßen von Herz zu Herz, jenem „sichersten aller Tresore | […] sicher vor jeder Flut“, sie müsste ertrinken an Worten und Bildern, die stetig in ihr um Luft ringen.

Auch den vielen Stimmlosen in ihrer Heimat will sie eine Stimme sein, will aufklären, wenn sie um die Welt reist, liest und berichtet. Das ist bei ihr durchaus kämpferisch gemeint. Schon in Haft, wenn sie nicht mehr konnte, hatte sie diesen Überlebenstrick: sich zwei Bilder vor das innere Auge zu führen, eins ihrer Familie und eins ihrer Peiniger. Meine Familie will ich wiedersehen, dachte sie dann. Und mein Feind soll mich wiedersehen.

Yirgalem wirkt auf eine Art gelassen, wie man es vielleicht wird, wenn man es als größte Freiheit begreift, endlich „ohne Einschränkung träumen“ zu können, endlich selbst für sein Handeln verantwortlich zu sein, für den Erfolg wie für das Scheitern. Sie weiß, dass sie sogar in München von Anhängern des eritreischen Regimes beobachtet wird. Das macht sie wachsam. Aber sie hat keine Angst mehr.

 

München im August 2022