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(W)Ortwechseln > Dima Albitar Kalaji & Ramy Al-Asheq > Weniger als ein Kilometer - Brief 7

Weniger als ein Kilometer – Brief 7

Ramy Al-Asheq an Dima Albitar Kalaji, 19. November 2020

Übersetzung: Günther Orth

 

© Ramy Al-Asheq

 

Liebe Dima,

gestern lief ich durch die Straße, die zwischen unseren beiden Wohnungen liegt. Ich bin dort regelmäßig unterwegs, aber diesmal war die Straße größer als sonst. Nicht länger, sondern im Wortsinn größer, mehrfach so groß wie in Wirklichkeit. Die Gebäude rechts und links der Straße waren höher, auch wenn sie kein Stockwerk mehr als sonst hatten. Die Trambahn, die die Straße sonst in zwei Fahrbahnen teilt, stückelte sie nun in drei parallele Spuren, die aussahen wie hochgefährliche Superschnellstraßen. Die dritte Spur war die unheimlichste, denn ich hatte sie nie zuvor gesehen und an ihrem Rand lief nur ein einziger Fußgänger, ein Mensch ohne Gesichtszüge, seine Bewegungen waren geordnet und vollzogen sich simultan mit meinen. Er lief vorwärts, wenn ich lief, er blieb stehen, wenn ich stehenblieb, und er sah sich um, wenn ich mich umsah.

Die neu entstandene Fahrbahn lag zwischen den beiden, die durch die nord-südlich verkehrende Trambahn geteilt sind, da, wo früher ein Grünstreifen war, auf dem Leute ihre Hunde ausführten. Keine Ahnung, wer das Gras und die Bäume und die Straßenlaternen weggenommen und stattdessen eine Autobahn dorthin gebaut hatte. Sie sah gruselig aus, irgendwie formlos und mit unbestimmter Fahrtrichtung, wie ein riesiges Loch, in das Zeit und Licht stürzten und aus dem Geräusche kamen wie von einem Kassettenrekorder, der das Band auffrisst und wieder ausspuckt.

Angesichts dieser Verwirrung musste ich an unseren Briefwechsel denken. Mir ist, als würden wir gleichzeitig die Briefe, die Straße, die Trambahn und die ganze Welt austricksen, denn meine und deine Wohnung liegen weniger als einen Kilometer auseinander und unsere Briefe sind so etwas wie nördlich (zu Dir) und südlich (zu mir) verkehrende Züge. Wir machen uns einen Spaß daraus, dass wir den Postboten, die unsere Briefe transportieren, das Gefühl geben, sie täten etwas Wichtiges, wir narren die Briefe selbst, indem wir ihnen vorspielen, sie würden weite Strecken zurücklegen, und wir tun gegenüber der Literatur so, als würden wir sie schreiben, geben dies auch den Verleger*innen gegenüber an und bekommen von ihnen Geld dafür. Zugleich tun wir so, als hätte Deutschland uns Flüchtlingen Briefe nicht längst vermiest: Wir enthalten uns vorgefertigter Sätze und einer bürokratiekranken Sprache, obgleich uns der Gang zum Briefkasten im Haus zu einem Graus geworden ist, da wir doch immer befürchten müssen, es könnte ein Schreiben der Asylbehörde, des Arbeitsamtes oder des Integrationszentrums darin liegen. Um dem etwas entgegenzusetzen, schreibe ich Dir diesmal sogar von Hand – ich will damit aber keinen Wettbewerb darüber anstoßen, wer von uns am schönsten schreibt: Du, ich, Deine Mutter oder Dein Großvater?

Diesen Brief werde ich von meiner Wohnung (die, wie gesagt, weniger als einen Kilometer von Deiner entfernt liegt) zum Briefkasten an der nächsten Straßenecke bringen, ein Postfahrer wird ihn ins Verteilzentrum befördern, dort wird er in einer kalten, dunklen Halle übernachten und schließlich wird ein Postbote ihn auf einem Fahrrad kreuz und quer durch die Straßen kutschieren, bis er ihn in Deinen Briefkasten wirft.

Wenn Du ihn in Händen hältst, wirst Du sehen, wie er lacht, wenn er bei einer schmerzfreien Geburt dem Umschlag entschlüpft, wie er sich entfaltet, das Licht erblickt und stumm zu Dir sprechen wird. Ein Brief ohne Tricks, frei von Literatur und Sprache. Es wird darin stehen, was mir gestern passiert ist und wie er zu Dir unterwegs war, mehr nicht. Nichts über mich und nichts über Literatur. Dieser Brief gibt sich selbst eine Geschichte und eine Erinnerung.

Seit jeher wäre ich lieber eine Botschaft als ein Autor und würde lieber herumreisen, als Reisen zu erfinden. Ich wäre lieber ein Wort, anstatt eines zu sagen oder zu schreiben. Schon immer glaube ich, dass ein Wort glücklicher ist als die, die es notieren, auch wenn es etwas Trauriges bedeutet, und dass selbst ein kurzes Wort reicher ist als alle, die es niederschreiben. Selbst ein Wort wie „schwach“ ist stärker und selbst ein Wort wie „Lüge“ ist ehrlicher als sie. Ein Wort hat immer mehr als eine Bedeutung, während der Autor nur er selbst ist, und, zur Hölle, wir wissen nicht, was das bedeutet!

Ich wäre gerne ein Wort, anstatt es zu sagen oder zu schreiben. Und selbst wenn ich ein falsch geschriebenes Wort wäre, käme dies meinem wahren Wesen am nächsten.

Ram.

 

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