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(W)Ortwechseln > Dima Albitar Kalaji & Ramy Al-Asheq > Bürgersteige sind die Abdrücke einer Stadt - Brief 8

Bürgersteige sind die Abdrücke einer Stadt – Brief 8

Dima Albitar Kalaji an Ramy Al-Asheq, 10. Dezember 2020

Übersetzung: Leila Chammaa


WOrtwechsel, B08, Dima Al Kalaji
© Kevork Mourad

Der Fingerabdruck bildet sich am Fötus ab dem dritten Schwangerschaftsmonat heraus und ist im sechsten vollständig geformt. Ich spüre ein Kribbeln im Bauch bei der Vorstellung, dass meine Gebärmutter Liens Spuren trägt. Unzählige kleine tintenblaue Abdrücke.

***

Weiße Marmorsäulen zieren die Eingangshalle des alten Einwohnermeldeamtes in Damaskus. Mit grober Hand drückten einem die Beamten den Finger in den tintengetränkten Schwamm, bis widerliche Bläschen aufstiegen, und stempelten ihn dann auf das Papier. Im nächsten Moment ließen sie die Gliedmaße los und machten eine Kopfbewegung in Richtung Tür.

Die Bürgerinnen und Bürger wurden hinausgeworfen – aus dem Büro in die Eingangshalle, wo sie sich der Spuren des „Staates“ entledigten, indem sie den Finger an einer der Säulen abwischten, die sich mit der Zeit in Griffhöhe dunkelblau einfärbten. Einige Abdrücke wollten höher hinaus und waren die Säulen hinauf in die Zementkuppel mit den kleinen, vom Rauch der Petroleumöfen verrußten Fenster geklettert.

Auf diese Weise war ich zu meinem Personalausweis gekommen. Das sind meine frühsten Erinnerungen als syrische Staatsbürgerin.

***

In der Mittelstufe glaubten wir, dass der Name des künftigen Herzallerliebsten am Fingerabdruck abzulesen sei. Ganze Papierstapel bedruckten meine Freundinnen und ich mit unseren Kuppen und versuchten, aus den Linien Namen herauszulesen. Dabei entstand ein Durcheinander. Am Ende konnten wir die Fingerabdrücke nicht mehr auseinanderhalten und die ersehnten Herren auch nicht.

***

„Uns allen steht das Schicksal auf der Stirn geschrieben und eilt uns bei der Geburt voraus“, sagte meine Großmutter.

Ich wuchs mit der Überzeugung auf, dass der Mensch die freie Wahl habe und nicht vorherbestimmt sei. Ich glaubte, ihm werde im Mutterleib sein gesamtes Leben vorgeführt. Nähme er es an, dann käme er auf die Welt, Stirn und Handflächen mit seinem Schicksal gebrandmarkt. Lehnte er es aber ab, so ginge er vorzeitig ab. Wie ich zu dieser „Information“ gekommen war, weiß ich nicht.

Meine Mutter hat mir und meinen Geschwistern als Kindern weisgemacht, dass sich auf Stirn und Handflächen zeige, wenn man log, und dass sie dies als Einzige sehen und entziffern könne. Stundenlang starrte ich meine Stirn und Hände an, um die Lügen auszumachen, die ich extra deshalb von mir gab.

Aber ich konnte weder Lügen noch den Namen meines Prinzen erkennen, was womöglich ein und dasselbe war.

***

Einmal nahm ein Mann meine kleine Hand. Er legte sie geöffnet in die seinen, die groß und mit blauen hervorquellenden Adern überzogen waren, betrachtete sie eingehend, schloss sie dann zur Faust und drehte sie, so dass der Handrücken oben lag. „Du wirst vier oder fünf Mal schwanger werden. Da ist eine Menge Lärm in deinem Kopf. Du wirst schreiben und Bücher verfassen. Viel Geld wirst du damit verdienen und berühmt werden“, prophezeite er und bat mich, die Finger noch einmal zu spreizen und ins Licht zu halten. Er rieb meine Handfläche kräftig, als wolle er die Linien wegradieren. Als er aufhörte, lief die Haut weiß an, dann rot. Er schwieg, schwieg, schwieg. Dann gab er mir die Hand zurück. „Du wirst ein glückliches Leben führen“, schloss er abrupt und tätschelte mir geheuchelt freundlich die Schulter.

Ich kannte ihn nur als alten Mann – oder nahm ihn damals so wahr. Ich wurde größer und die Linien in meiner Hand wurden länger. Er dagegen änderte sich nicht, blieb alt. Vielleicht hat er ja wirklich die mir vorgegebenen Bahnen gelöscht. Denn nichts von dem, was er vorhergesagt hatte, ist eingetreten. Ich wurde nicht fünf Mal schwanger, habe keine Bücher geschrieben und bin ganz bestimmt nicht reich und berühmt geworden. Lange habe ich bei jeder Erschütterung, die ich erfuhr, meine Handfläche betrachtet und die Widrigkeit als Übersetzung seines Schweigens gedeutet. Ich versuchte, die Linien wegzuwischen und neu zu sehen – genau wie er. Bis heute tue ich das hin und wieder. Am Ende seiner Tage wusste der Mann nichts mehr. Nicht einmal mehr, wie er hieß, was er gelernt und gelehrt hatte. Nach all den Reisen, die er unternommen, all den vielen Jahren, die er gelebt hatte, war ihm entfallen, in welchem Land er wohnte. Er hatte die Orientierung verloren, fand sich nicht mehr zurecht. Nur noch die Kartografie der Handflächen zeigte Weg und Richtung an.

***

Beim Töpfern muss man die Luft aus dem Ton kneten, sonst platzt das gefertigte Stück.

Ich drücke Finger und Handfläche in die glatte Oberfläche des Tons. Die hervorstehenden Linien graben sich als Vertiefungen ein. Berge werden zu Tälern. Das Schicksal verkehrt sich. Ich erhalte eine Negativabbildung des Lebens, das mir im Mutterleib vorgeführt wurde und das ich angenommen habe. Ich sehe es vor mir, eingraviert in Schweigen. In ein klares, begrenztes, endliches, ungelesenes Schweigen. Ich sehe es und nehme es ein weiteres Mal an.

In Damaskus habe ich ein verkehrtes Schicksal und glasierte Fingerabdrücke.

***

Unter den alten Posts, an die einen Facebook erinnert, habe ich folgenden Text gefunden:

„Khuloud und ich stehen vor dem Higaz-Bahnhof. Wir kommen aus dem Halbuni-Viertel und wollen die Straße in Richtung Hamidiya-Viertel überqueren. Sicherheitsleute überall, kurz vorher sind hier Bomben eingeschlagen. Statt die Straße abzuriegeln, zwingen sie uns weiterzugehen. Die Feuerwehr hat entschieden, dass jetzt der beste Zeitpunkt ist, die Spuren der Bomben vom Platz zu spritzen, und die Nasr-Straße samt Abzweigen in ein Meer aus Rinnsalen und Blutlachen verwandelt. Im Bruchteil einer Sekunde wird mir bewusst, dass ich erstarrt dastehe in einem See aus Blut, mein Kopf fragt: Weitergehen? Durch Blut waten? Wie soll das gehen?

Khuloud, wie immer gefasst und entschlossen, hat bereits das Chaos passiert und die andere Straßenseite erreicht. Das Einzige, was ich tun kann, ist, alle Denkvorgänge in meinem Kopf auszuschalten und ihr zu folgen. Wir laufen weiter und hinterlassen auf dem Gehweg blutige Fußabdrücke.“

Bürgersteige sind die Abdrücke einer Stadt. Was ich an den Fußsohlen habe, das sind die Abdrücke der Bürgersteige von Damaskus. Sie folgen meinen Schritten, berechnen sie, zeichnen hinter mir einen langen roten Weg bis ans Ende.

 

Lieber Ramy,

das Wort hat die „Illusion der Distanz“ überlebt und mit ihm ein staubiger Fingerabdruck auf dem weißen Briefumschlag.

 

Lass es Dir gut gehen.

Unser Gespräch wird weitergehen – ewig.

Dima

 

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