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Mit meinen fünf Sinnen

Ramy Al-Asheq
Übersetzung: Lilian Pithan
Bild von Yara Said
Bild von Yara Said, In this Place there once was Noise 01, 100 x 100 cm, Sand, Papier, Acryl auf Leinwand (2019)

Deine lügende Stimme gestern Abend
Dein Gesicht, verklebt von den Zügen einer anderen
Deine kindliche Angst
Dein zitterndes Erbeben
Deine Haut eine löchrige Wolke
Deine Handfläche kreisrund wie ein Armband
Dein Mund, der stotternd sagt, was du nicht willst
Ich erkenne sie, wie der Sohn der Wüste seine Mutter erkennt
Mit meinen fünf Sinnen
Der Intuition von Ehefrauen
Der Übellaunigkeit von Dichtern
Den Ängsten von Kriegsgefangenen
Der Furcht von Fliehenden
Dem Wissen von Schuldigen über ihre Geheimnisse
Mit meinen fünf Sinnen erkenne ich sie
Und übergehe sie
Wie eine schmerzliche Vergangenheit

Ich bin dein Lügendetektor
Deine Waage, in eine dunkle Ecke geworfen
Die Seherin deiner Traurigkeit und deiner Versuche, bösartig zu sein
Dein Haus, das seine Wände um deine Nacktheit kehrt, seine Tür schließt für dich und dir die Schlüssel zur Freiheit überlässt
Deine Katze, die weiß, wo du ihr Fressen versteckst,
es aber vorzieht, dich zu rufen
Deine Vergangenheit, die noch nicht gekommen ist, damit du sie loswirst
Deine Vergangenheit, die dich besser kennt als du dich selbst
Ich weiß, wie sich dein Körper verändert hat, bis sogar ich zu eng geworden bin
Und im Schrank hänge wie eine erhängte Schuld
Die deine Finger zitternd überspringen
Wie sich deine Züge verändert haben
Bis die Bilder unserer Erinnerungen die zweier Fremder wurden
Wie sich deine Stimme beim Lügen nicht verändert hat
Als ob es dir entfallen sei, seit du das letzte Mal sagtest:
„Ich liebe dich“

Ich entferne dich aus meinem Fleisch
Wie eine Kugel
Nachdem ich von deinem Speichel getrunken habe
Wie einer, der Schlangengift als Gegenmittel trinkt
Zu dir hin gelebt habe
Mich aus meiner Haut geschält habe wie eine Schlange
Meine Erinnerungen Staub und Würmern überlassen habe
Und du zu dem geworden bist, was einer im Exil am meisten begehrt
Ich entferne dich aus meiner Haut wie ein Muttermal, dessen Farbe sich ändert
Aus meinem Auge wie eine versteinerte Träne
Aus meinem Herzen wie Blut
Aus meinem Kopf wie einen Splitter, der keinen Krieg kannte
Ich entferne dich wie Damaskus mich entfernte

 

Dank an Ibrahim Mahfouz für die Unterstützung bei der Übersetzung.

Dieser Text erschien zuerst in Ramy Al-Asheqs Gedichtband „Gedächtnishunde“, Sujetverlag (2019).

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