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Scheckige Hände, gelesen von
Annika Reich

Scheckige Hände

Rasha Habbal
Übersetzung: Larissa Bender
Ilustration: Tania Al Kayali
Illustration: Tania Al Kayali (2017)

Mein Herz, das aus Liebe schlagen kann, kann auch stillstehen, wenn es eine blaue Perlenkette sieht, die jahrelang an der Steinwand im Haus meines Vaters hing.

Vor einer Woche erhielt ich ein kleines Päckchen von meinem Vater. Die sorgfältig zusammengewickelte und von allen Seiten zugeklebte Plastiktüte ließ mich unweigerlich an die von der Weißfleckenkrankheit gezeichneten Hände meines Vaters zurückdenken, die ich immer als etwas Besonderes betrachtet habe. Die Hände meines Vaters sind scheckig und sehen anders aus als die der anderen Väter. Ich sah vor mir, wie diese Hände die letzte Tüte zuklebten und sie behutsam prüfend hin und her wendeten. Einen Moment lang packte mich das Entsetzen darüber, diese Tüte, die mein Vater mit seinen eigenen Fingern zusammengeklebt hatte, aufreißen zu müssen.
Doch meine Erregung war stärker. Ich fand eine Tüte in der Tüte, und so folgte eine Überraschung der anderen. Es waren Überraschungen, die dir Erinnerungen an Details ins Gedächtnis rufen, bis du zu keuchen beginnst, als liefest du zwischen den Wänden deines eigenen Körpers umher.

Bei der zweiten Tüte musste ich lachen wie ein Kind, das eine Glasmurmel gefunden hat, die anders ist als alle Murmeln seiner Spielkameraden.
Ich wandte mich an meinen Freund und sagte: »Ich habe jetzt eine Tüte von Maghmuma.«
Verwunderung legte sich auf seine Gesichtszüge. Das hatte ich erwartet und so nutzte ich diese Verwunderung, um ihm einen Stadtplan meiner Stadt zu skizzieren: »Maghmuma ist der berühmteste Fotograf in Hama. Sein Studio liegt hinter der Hauptpost am Orontesplatz.«
Das Lächeln meines Freundes galt weder dem Fotostudio von Maghmuma noch dem Orontesplatz, denn beides interessierte ihn nicht, sondern einer weiteren Überraschung im Inneren der Tüte.
Als ich sie öffnete, nahm ich einen mir sehr vertrauten Geruch wahr. Einen Geruch, den ich vermisst hatte, obwohl er mir damals genauso wenig bedeutet hatte wie Tausende anderer Gerüche und Dinge auch. Der Geruch von getrockneten Okraschoten. Oh mein Gott! Ich besaß nun eine kleine Tüte Okraschoten und roch daran wie jemand, der den Geruch eines Verstorbenen oder eines Geliebten einsaugt. Ein ganzes Jahr lang habe ich bei mir zu Hause darauf gewartet.
Ist das denn mein Zuhause? Das neue Land konnte mich nicht halten, an meinem Land wollte ich mich nicht weiter klammern. Die Dinge können nicht in Entfernungen gemessen werden.
Wie kann das also mein Zuhause sein, wo es hier doch keine Okraschoten gibt, die den Duft der zweiunddreißig Jahre meines Lebens in sich tragen?
Ich öffnete die Tüte und steckte meinen Kopf tief in die harten Schoten. »Am Freitag werden wir diesen Schatz essen!«, rief ich augenblicklich, als verkündete ich den Beginn der Erlösung.

Dazu zwei Romane. Einer aus meiner Bibliothek, die ich zurückgelassen hatte. Auf der ersten Seite standen mein Name und das Datum des Tages, an dem ich das Buch gekauft hatte. Ich hatte immer Angst gehabt, die Bücher könnten bei Freunden verloren gehen, ohne dass ich wüsste, wem sie gehörten.
Vielleicht aber hätte ich schreiben sollen:

»Rasha Habbal
2010
Syrien«.

Doch damals wäre mir nicht in den Sinn gekommen, dass Syrien eine begrenzte Zeitspanne sein könne und dass ich Bücher besitzen würde mit dem Vermerk:

»Rasha Habbal
2016
Deutschland«.

Der zweite Roman war aus der Bibliothek meines Vaters und trug eine Widmung von ihm:

»Du hast ein wenig von mir
Und ich habe viel von dir
Die Musik einer aufregenden Kindheit
Und der Schweiß der Tage
Wir haben nun etwas, das wir gut festhalten
Das Salz der flüchtigen Details …«

Er allein war es gewesen, der mich gelehrt hatte, wie die Sprache zu einem Schlüssel wird. Aber wichtiger als die Sprache war jetzt seine Handschrift … Ich hob ungläubig den Kopf. Wie konnte die Schrift meines Vaters mir in einem einzigen Moment alle Schulzeugnisse ins Gedächtnis rufen?
»Wir danken Ihnen für Ihre Mühen.«
Sein unveränderlicher Satz, darunter seine Unterschrift.
Erst jetzt fiel mir auf, dass meine Unterschrift der meines Vater gleicht und meine Schrift seiner. Und dass ich mit jedem Schritt, den ich tue, meinen Fuß in die Nähe von seinem setze.

Noch eine kleine bunte Tüte.
Ich habe mich selbst seit langer Zeit nicht mehr so vor Glück schnaufen gehört. Ich fand eine blaue Perlenkette, die vor dem bösen Blick schützt, bestehend aus ein paar blauen Perlen, einem silbernen Halbmond und einer silbernen Hand. Mein Vater glaubt nicht an den bösen Blick, aber er glaubt an die Farben, welche die Blassheit des unveränderlichen Steins durchbrechen. Mein Vater glaubt nicht an den bösen Blick, aber er schickte mir eine ganze Wand unseres Hauses in einer kleinen Tüte.
Dazu schickte er eine kleine Halskette und zwei Ohrringe, die er mit seinen eigenen Händen für mich gefertigt hatte, die ich seine Hände so sehr liebe. Ich kannte diese Perlen, aus denen er Kette und Ohrringe gemacht hatte. Sie hatten zu einer Gebetskette gehört, die ihm einer seiner Genossen aus der Zeit seiner politischen Arbeit im Gefängnis geschenkt hatte.
Wie ist es möglich, dass dein ganzes Leben in nur einer einzigen Viertelstunde an dir vorüberzieht? Dein Leben zieht an dir vorbei und du redest dir weiter ein, dass du frei bist von diesen Händen, die dich von dort aus festhalten.

Meine Tasse Kaffee steht zwischen uns
Nach drei Zeichen
Eine Straße
Rechts ein Checkpoint
Links ein Checkpoint
Und zwischen links und rechts
Jemand, der meinen Vater weggetrunken hat.
………………………….
Vielleicht war es ein Gewehr
Oder ein Gewehr
Sicher ein Gewehr
In seinem Gesicht oder seinem Rücken.
………………………….
Hat er geschwitzt?
Bestimmt hat er heimlich geflucht
Hat das Stofftaschentuch hervorgezogen
Sich das Gesicht abgewischt
Und auf das Land geschimpft.
………………………….

Ich möchte einen Text ohne einen einzigen Buchstaben schreiben, denn die Arterien sind eng und du kannst die Karawanen der Tage nicht mit einem Schwung hindurchfließen lassen.

17. Juni 2015.
An diesem Tag stand ich zum letzten Mal auf syrischem Boden und war mir bewusst, dass ich gehen musste. Aber die Dinge, die meine Füße mit Gewalt festhielten, waren die Dinge, die keine Entfernungen haben können. Entfernungen, deren Stimme du deutlich hören kannst, wenn sie dir sagen: »Geh nicht!«
Aber du bist feige und deshalb sagst du zur Flucht: »Du bist der Weg.« Und du verirrst dich im Nebel, ohne dich zu deinem Schatten umzudrehen, der störrisch ist wie ein törichter Esel. Deshalb siehst du jetzt, wie wir unsere Schatten streng erziehen, damit sie uns nicht ein weiteres Mal von ihrem Rücken werfen.

Alle um mich herum sind tot und ich glaube, ich auch …
Ich, die ich nicht gut Entfernungen überwinden kann zum Beispiel.

Noch immer hallt die Stimme meines Vaters in meinem Kopf nach, der vor zwanzig Jahren Wasser war: „Rasha, mein Kind, zwei Meter noch, strecke deine Hand aus, dann bist du da.“

Aber ich war schon vor den noch verbleibenden zwei Metern am Ende und die Züge der Enttäuschung im Antlitz meines Vaters zogen meine Füße nach unten. Diese Stimme verfolgt noch immer meine Angst vor den letzten zwei Metern. Diese beiden Meter können die Größe eines Grabes und eines Grabsteins sein.

Rasha Habbal Anke Bastrop

Rasha Habbal & Anke Bastrop

Die beiden Autorinnen haben sich über die Arbeit am Text kennengelernt und sofort beschlossen, gemeinsam weiterzuarbeiten. Wir freuen uns und sind gespannt.

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