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Das Herz verlässt keinen Ort, an dem es hängt

von Widad Nabi

Nicht nur Orte werden durch Erinnerungen erhellt. Auch wir Menschen werden durch längst Verlorenes erhellt, selbst dann noch, wenn wir alt geworden sind und an Alzheimer leiden. Dann führt uns unser Gedächtnis zurück an Orte, die wir aus der Kindheit kennen, obwohl wir viele andere Dinge vergessen.
Vielleicht waren es meine Begegnungen mit der deutschen Schriftstellerin Annett Gröschner, die mich glauben ließen, der Mensch habe das Herz von Lachsfischen. Sie legen Tausende von Kilometern zurück, um dann gemeinsam wieder an ihren Ursprungsort im Fluss zurückzukehren, an dem sie aus Laich entstanden sind.

Als ich Annett zum ersten Mal in Prenzlauer Berg traf, waren Texte über den Ort, den wir verloren hatten, die einzige Gemeinsamkeit zwischen uns beiden. Als wir aber zu der Straße liefen, in der sich ein Haus von alten Bekannten befand, und sie mir davon erzählte, wie wichtig dieses Haus für sie ist und dass noch immer Trümmer im Keller herumlägen, klang das so, als hätte sie diesen Ort nie verlassen. Sie hatte das Innere des Hauses noch so genau vor Augen, dass ich mir wünschte, eines Tages Aleppo und unser Haus dort besuchen zu können, so wie sie jetzt dieses Haus besuchte. Ich wäre jederzeit bereit dafür, selbst wenn alles, an das ich mich erinnerte, in Trümmern läge, so wie einst die Häuser im alten Prenzlauer Berg.

Wir sprachen über den Verlust und die Trümmer, die uns miteinander verbanden, als Annett mich zu einem anderen Gebäude in der Straße führte, um mir den Innenhof dieses Gebäudes zu zeigen. Annett erklärte mir den Hof in allen Einzelheiten. Dabei war ich mit diesem Gebäude schon sehr vertraut! Ich kannte es in- und auswendig, lebte in ihm doch der Mann, den ich bis vor etwa einem Jahr geliebt hatte – dann war unsere Beziehung zu Ende gegangen.

Annett sprach über die alten Steine am Eingang, von denen ich wusste, dass sie die Spuren meiner Schritte gespeichert hatten. Ich wusste auch, dass das Gefühl der Liebe ebenso alt war wie dieses Gebäude. Ich schaute nach oben zu dem Fenster, aus dem ich während der Besuche bei meinem Freund geblickt hatte. Ich hatte von dort das gesamte Gebäude und seinen Innenhof mit den Blicken eines Bewohners gesehen; heute aber war ich mit Annett als fremde Betrachterin gekommen. Fremd an einem Ort, an dem ich Luft, Wasser und Lachen geteilt hatte. Heute stand ich draußen wie Annett, die versuchte, Erinnerungen an das alte Haus ihrer Familie zurückzurufen. Ich hörte das Echo meiner Schritte bei meinem letzten Besuch. Ich hörte das Geräusch meiner Absätze auf den alten Steinen, über die sich nun meine deutsche Partnerin beugte, um sie zu berühren. Sie sprach von den Menschen – den glücklichen wie den traurigen –, die hier gelebt hatten und an diesen Steinen vorbeigekommen waren. Ihre Worte erinnerten mich an die Steine, die die alten Viertel von Aleppo geziert und meine frohen und auch meine traurigen Schritte gekannt hatten. Heute stand ich an diesem neuen Ort außerhalb des Geschehens, während sich in meinen Gedanken der Geruch von Weihrauch und von Kaffee, den ich in der Küche meines Freundes gekocht hatte, mit den Erinnerungen an den Kaffee und den Weihrauch im Haus meiner Familie in Aleppo vermischte. Ich hörte Annetts Stimme, die mir nun wie traurige Hintergrundmusik für einen Stummfilm über eine Frau erschien, die mir ähnelte und sich zwischen zwei Erinnerungen befand, die sie verloren hatte. Jede Erinnerung hing eher mit einem Ort zusammen als mit Menschen. Ich fragte mich, wer meine alte Geschichte in Aleppo gestohlen hatte. Mein Haus, mein Viertel. Und wer hatte meinen Ort hier gestohlen? Wer lebte jetzt das Leben, das meins gewesen war? Welche Farbe hatten die Augen, die auf meinen alten Ruinen gewachsen waren? Mir wurde klar, dass ich all meine Orte verloren hatte. Ist es nicht immer dieselbe Geschichte, die man in allen Sprachen der Welt durch ein Wort – „Verlust“ – ausdrücken kann? Ich war nicht in der Lage, meiner Freundin Annett zu erklären, was ich fühlte, als ich auf den Ort blickte, der eine Zeit lang mein Ort gewesen war. Nun war ich außerhalb dieses Ortes, genauso wie ich außerhalb des Geschehens in Aleppo war und sie außerhalb des Hauses ihrer Familie. Wir beide waren nur Betrachter von Orten, die mit unserer Erinnerung verbunden waren, Orte, die uns im Stich gelassen hatten durch Kriege, Zerstörung und Abschiede.

Annett und ich sollten uns ein weiteres Mal treffen. Sie lud mich zu einem Theaterstück über Aleppo von Mohammad al Attar ein. Sie freute sich sehr darauf, mit mir die Aufführung zu besuchen. Doch sobald ich das Haus der Kulturen der Welt betrat und die Karte von Aleppo und seinen Stadtvierteln sah, verspürte ich dieselbe Bitterkeit wie beim Besuch in Prenzlauer Berg. Wieder war ich nur Betrachterin eines Ortes, den ich verloren hatte…

Ich betrat den Saal. Die Vorstellung war ungewöhnlich; sie bestand darin, dass jeder Zuschauer neben einem Schauspieler saß, der ihm das Stadtviertel Aleppos erklärte, das er auf der Karte ausgewählt hatte, und ihm die Geschichte eines ehemaligen Bewohners erzählte. Als Jan, der Schauspieler, bei dem ich saß, über Al-Ashrafia zu erzählen begann, ein Viertel, das ich sehr gut kannte, konnte ich meine Tränen nicht zurückhalten. Ich befand mich in einer Stadt, die weit von meiner eigenen Stadt entfernt war, und vor mir saß dieser fremde Mensch, der Aleppo nie besucht hatte, und erzählte mir von meiner Stadt. Ich musste ganz einfach weinen. Die salzigen Tränen nahmen ein bisschen von der Bitterkeit fort, die ich während der gesamten Aufführung verspürte. Jan spürte, wie schwer die Situation für mich war, und begleitete mich danach nach draußen. Doch wie sollte ich ihm mit meinem bisschen Deutsch erklären, wie groß die Bitterkeit und der Schmerz eines Menschen waren, der all seine Orte und alten Erinnerungen verloren hatte und dann wie ein Fremder einer Geschichte zuhörte, die seine eigene war?

Als ich die Aufführung verlassen hatte und Annett erblickte, umarmte ich sie und weinte. Weinen ist wohl der beste Weg, um auszudrücken, wie groß der Schmerz ist, den wir verspüren. Es muss nicht übersetzt werden. Man versteht es in allen Sprachen der Welt. Ich weiß, dass Annett mich sehr gut verstand.

Zum dritten Mal blickte ich durch sie auf die Orte, die ich kannte und an denen ich als Fremde gelebt hatte, während ich mich außerhalb des Geschehens befand. Es schien, als bestünde das Leben in diesem ständigen Verlust der Orte, nachdem wir alles dafür getan haben, sie uns vertraut zu machen, und an die wir zurückkehren, wenn das Leben zu hart mit uns ist. Wenn wir dann nach draußen geworfen werden, treffen wir auf die Härte der Welt, ohne die Wärme und alte Vertrautheit des Ortes. Das Herz jedoch, vor und nach dem Krieg, verlässt keinen Ort, an dem es hängt.

Dieser Text erschien zuerst in der Berliner Zeitung.

Übersetzung: Kerstin Wilsch

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