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Gedichte übersetzen

von Monika Rinck

Der offene, ungeformte Raum zwischen zwei Sprachen besteht aus Aufmerksamkeit – sowohl auf das Fremde wie auf das Vertraute. Als Vermittlungsinstanz dient uns das Englische. Hinzu kommen Zeichnungen, Handbewegungen, Mimik und Gestik, Beispiele, Erinnerungen, einige Zigaretten und literweise Tee. Aber die wichtigste Zutat ist wohl die Zeit, die diese Arbeit benötigt. Und noch immer sind die deutschen Übersetzungen in Bewegung, gibt es Stellen, wo irgendwo am Horizont eine bessere, noch unkonturierte Übersetzung aufscheint, von der ich ahne, dass es sie gibt, die ich aber noch nicht erkennen kann. Sie ist ein Zwischenwesen, der Horizont verläuft in der Mitte des Tisches, an dem Ramy Al-Asheq und ich uns gegenübersitzen.

Das arabische Wort „thronen“ kann auch Efeubewuchs an einer Hauswand heißen, ja? Was genau ist hier mit Normalität gemeint? In welche Richtung neigt sie sich? Lange saßen wir über der Zeile
ويكادُ يبكي الأنبياءُ من التجنّيْ, die auf Englisch lautete: „Prophets almost cry of victimization“. Victimization? Schließlich entschloss ich mich, zum größtmöglichen Begriff auf diesem Feld Zuflucht zu nehmen: Unrecht. Aber das soll noch nicht das letzte Wort sein.

Manche Bilder entfalten in der einen Sprache eine größere Drastik, werden zu Überbietungsbildern, die aus dem Gesamtzusammenhang in der Sprache weiter herausragen als in einer anderen. Im Verlauf der Arbeit melden sich schmerzhafte Fragen, auf der Suche nach dem besten Wort. Mit dem Begriff der Angemessenheit kommt man ihnen nicht immer bei. Es darf nichts beschönigt werden, aber dennoch geht es auch um Schönheit. Das ist die Schwierigkeit. Aber sie ist nicht frivol, da es eben nicht nur um Schönheit geht, angesichts von Gedichten, die von Gewalterfahrungen zeugen. Die bessere Frage wäre vielleicht: Worin besteht sprachliche Integrität? Und wie lässt sie sich je in der Übersetzung verwirklichen?

Die Gedichte von Ramy Al-Asheq, die wir bislang übersetzt haben, sind lang. Die Länge der Texte gibt Raum für Permutation, Lamento, Wiederholung, Drehung, Raum für die geringste Bewegung, die vielleicht ein Anfang sein kann. So dass sich selbst im Ausweglosen etwas wie eine Weite herstellt, und eine Distanz, von der aus ich das Geschehen besser begreifen kann als aus nächster Nähe. Es scheint mir, je härter die Zeit, desto mehr ist man auf diese Räume angewiesen, doch desto schwieriger ist es gleichfalls, sie zu errichten und zu halten. Die Form eines Gedichtes ist bereits ein Verweis auf eine gewisse Distanzierung. Und die bearbeitete, die poetische Sprache ist dann ein Speicher der Zeit, die es brauchte, sie hervorzubringen. Die Zeit, die da hineingegangen ist, gebündelt, als Geschenk an die Leser.

Die Grenzen zwischen dem Geschehen und dem Beobachter, dem, der es aufzeichnet und ihm eine poetische Form gibt, der das Geschehen bearbeitet und in Form bringt, sind zuweilen ein sehr trauriges Terrain. „Wer ist es, der uns bewegt? / Weißt Du es? / Und wüsstest Du es, / wie könntest Du ein einziges Wort sagen nach all dem Tod?“ So heißt es in dem Gedicht „Niemand bemerkte deinen Tod“.

Ich erinnere mich an ein Interview mit Ilse Aichinger, in dem sie gefragt wurde, ob sie, als sie mit 25 Jahren, kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, zugunsten der Arbeit an ihrem ersten Roman, unter dem Eindruck der Judenvernichtung des NS, ihr Medizinstudium aufgab – ob sie sich damals entschlossen habe, Schriftstellerin zu werden. Und sie antwortete: „Ich wollte nur die Sprache finden.“ Und ich fürchte, solange Gewalt herrscht, muss die Sprache, sie zu beschreiben, immer wieder neu gefunden werden. Im Moment der Gewalt existiert sie nicht mehr, und vieles lässt sich nicht mehr sagen wie bisher. Fast ebenso wichtig ist es, diese Sprache zu übersetzen. Denn die Gewalt, die anderswo in der Welt herrscht, geht auch diejenigen an, die in Frieden leben.

 

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