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Laudatio auf Lina Atfah von Nino Haratischwili zur Verleihung des Kleinen Hertha Koenig-Literaturpreises

Ich bin Lina nicht begegnet. Bis heute. Aber ich hatte gleich zu Beginn unserer Korrespondenz das Gefühl, sie zu kennen. Ich maße mir nicht an zu denken, dass dieses Gefühl einigen Parallelen in unseren Biografien geschuldet ist. Dass wir beide Kinder der Achtziger sind, dass wir beide weggegangen sind aus dem Land unserer Kindheit, dass wir beide in der Literatur eine Heimat gefunden haben, dass wir beide unsere Sprachen wechseln, sie neu finden mussten, dass wir beide diesen etwas geheimnisvoll-nervigen Stempel „exotisch“ umgehen müssen, um jenseits der Klischees unsere Geschichten erzählen zu können, dass Deutschland uns zu einem zweiten, oder besser gesagt, zu einem anderen Zuhause geworden ist. Genauso wenig mag ich irgendwelche Parallelen in den Geschichten unserer Herkunftsländer suchen, die beide einen Reigen aus Krieg und Gewalt getanzt haben oder heute noch tanzen.

Es wäre falsch zu behaupten, unsere Erfahrungen oder Erinnerungen wären ähnlich oder gar gleich, denn das wäre leicht zu widerlegen, würden wir Nachforschungen anstellen und die Fotoalben in unseren Köpfen durchblättern. Ich glaube auch nicht, dass es sinnvoll ist, irgendwelche Überschneidungen des Leids zu suchen, denn das Land, aus dem ich komme, lebt heute – trotz der von Russland okkupierten Territorien – in Frieden. Das Land, aus dem Lina kommt, ist mittlerweile zum Sinnbild einer modernen Menschheitstragödie und allen voran des menschlichen Versagens geworden. Aber das ist ein anderes Thema.

Ich finde es falsch, eine künstliche Nähe zu behaupten, um eine plausible Erklärung dafür zu finden, was mich zu Lina oder viel mehr zu ihren Gedichten gebracht und wie sich mich in ihren schaurig-schönen Banngezogen haben.

Denn simpel gesagt habe ich Linas Literatur erst durch das Projekt „Weiterschreiben“ entdeckt. - Lina und ich wurden einander zugewiesen, ohne viel von einander zu wissen. Wir begannen mit dem Austausch von E-Mails. Ich hatte mir keine großen Gedanken darüber gemacht, was daraus entstehen sollte oder könnte, ich weiß noch, dass ich mich etwas unsicher gefühlt habe – was könnte ich Lina anbieten, wie könnte ich ihr helfen, im literarischen Deutschland besser anzukommen? Ich wusste, dass sie seit einigen Jahren in Deutschland lebte, die Sprache lernte und Lyrik schrieb – die in ihrer Heimat nicht veröffentlich werden durfte und die in Deutschland noch kein richtiges Zuhause gefunden hatte.

Ich bin mit Lyrik großgeworden. Hauptsächlich mit russischer, georgischer und deutscher. Meine Großmutter konnte seitenweise Achmatowa und Jessenin rezitieren und stets glühten ihre Augen dabei, immerzu betonte sie die Schönheit der Sprache und wies mich auf die Feinheiten einzelner Wortkombinationen hin. Sie wurde in den 1930ern geboren, zur Zeit der Stalinistischen Repressionen, und wie jeder Sowjetmensch, war auch für sie die Lyrik eine Art Urgewalt, eine mächtige Waffe gegen das System, eine codierte, geheime Sprache, in der die vielen Millionen Menschen, die in einer Diktatur lebten, miteinander kommunizieren und sich austauschen konnten. Man sprach gar vom poetischen Widerstand und von der „zweiten Kultur“.

Ich konnte diese Begeisterung, diese Aufruhr, mit der sie mir die Verse vortrug, nur bedingt nachvollziehen – die Zensur hatte in den 1980ern natürlich nachgelassen, auch war ich zu jung, um die gesamte politische Dimension, die sich in diesen Zeilen verbarg, nachvollziehen zu können, aber mit der Zeit, als ich mich Jahre später auf die Spuren des russischen Symbolismus begab, begriff ich, was sie so entflammen ließ – es war die Möglichkeit, das Unsagbare, das Verbotene, das Unterdrückte, das Schmerzliche einer ganzen Nation und somit auch eines jedes Einzelnen in Worte zu fassen. Vom Fabrikarbeiter bis hin zum Arzt – sie alle waren vereint in einem System aus Angst und Unterdrückung, und sie alle waren auf dieselbe Art und Weise wortlos. Sicherlich besaßen manche mehr und manche weniger Privilegien, aber allen wurden die Flügel gleichermaßen beschnitten, alle waren gleichermaßen Gefangene in ihrem eigenen Land. Und einzelne Menschen, in diesem Fall die Dichter, die ihre Zeilen nicht selten mit unsagbarem Leid oder gar mit dem Tod bezahlen mussten – sprachen für all diese Sprachlosen. Sie fanden Worte für das, wofür die anderen keine hatten. Sie fanden Umschreibungen und Übersetzungen für all die Gefühle, die die Menschen in diesem riesigen Reich in sich trugen und doch niemals offen zeigen durften.

Als ich Linas erstes Gedicht las, musste ich merkwürdigerweise an meine Großmutter und ihre glühenden Augen denken, wie sie die Zeilen bestimmter Dichter vortrug, als wolle sie mir mit ihrem Blick noch so viel mehr verraten, als die Worte, die sie aufsagte, als verberge sich hinter ihnen noch ein viel tiefergehender Sinn und ein doppelter, wenn nicht gar dreifacher Boden. Ich konnte diese Böden nicht alle erfassen, aber ich ahnte, ich spürte sie.

Trotz der Gegenwärtigkeit dieses Anblicks, den ich sofort vor Augen habe, wenn ich an meine Großmutter denke, erschien mir dieses Glühen, dieses Geheimnis, das sie mit so vielen aus ihrer Generation teilte und das mir nie ganz zugänglich war, als etwas sehr weit Zurückliegendes, wie ein Relikt aus einer vergangenen Epoche. Denn für mich, als eine in den letzten Atemzügen der Sowjetunion Geborene, war diese Art von Zensur und Angst nicht wirklich greifbar und vorstellbar. Als ich meine ersten literarischen Schritte unternahm, lebte ich zwar in einem bürgerkriegszerrüteten Land, in dem das tägliche Überleben einem Kreuzzug durch den Dschungel glich, aber dennoch war es bereits ein freies Land und niemand interessierte sich dafür, was ich da aufs Papier brachte. Die Menschen hatten ganz andere Sorgen.

Später, nach meinem Umzug nach Deutschland und nach dem Wechsel der Sprache, fühlte ich mich noch freier, als hätte mir die erlernte deutsche Sprache eine Distanz ermöglicht, die ich benötigte, um bestimmte Dinge aufs Papier zu bringen, die ich vielleicht in meiner Muttersprache nicht zu schreiben vermocht hätte. So oder so war für mich das Schreiben zwar immer eine Art Grenzüberschreitung, ein Zustand, als würde man durch ein Mikroskop auf das Leben schauen, aber es war niemals etwas, das ich mir erkämpfen musste, es war niemals etwas, das mich auch nur ansatzweise in so etwas wie Lebensgefahr brachte, niemals etwas, das einer Art codierter Geheimsprache glich – wie im Falle der Generation meiner Großeltern.

Lina, die 1989 in der syrischen Stadt Salamiyah zur Welt kam und im Kreis einer großen Familie aufwuchs, schreibt seit ihrer Kindheit Gedichte. Sie nahm an vielen Lesungen und verschiedenen literarischen Veranstaltungen teil, bis sie, damals 17-jährig, ein Gedicht vortrug, das sie wegen seines politischen und sozialen Inhalts mit dem Regime in Konflikt brachte. Sie wurde der Gotteslästerung und Staatsbeleidigung beschuldigt. Und das war nicht 1937, sondern 2006. Ihr Lyrikband „Am Rande der Rettung“, der danach veröffentlicht wurde, konnte nur außerhalb von Syrien erscheinen.

2013 musste Linas Mann Syrien verlassen, während Lina ein Jahr in der Ungewissheit und unter dem ständig wachsenden Druck der Regierung lebte. Sie wurde immer wieder zu verschiedenen Befragungen und Untersuchungen in Damaskus vorgeladen – „ich überlebte, aber mein Herz blieb dort“, schrieb sie mir. 2014 gelang auch ihr die Ausreise. Als ein neuer Osman und als eine neue Lina seien sie und ihr Mann sich nach diesem Jahr der Trennung in Deutschland wiederbegegnet.

Die Erfahrung, aus der Heimat fliehen zu müssen, ist, so denke ich, in jeder menschlichen Biografie ein harter Schnitt, eine Zäsur, ein Teilen in Davor und Danach, aber für einen Autor ist es eine doppelte Entwurzelung, ein Verlust der Sprache und somit ein Sprung in die Unerträglichkeit des Ungewissen. Bei Lina hat es acht Jahre gedauert, bis sie in Deutschland, ihrer Wahlheimat, ihre Sprache wiederfand. Erst 2015, schreibt sie, bekam sie die Möglichkeit, in Köln an einer Lesung teilzunehmen, eine Art Türöffner – denn sie erhielt daraufhin das Angebot, einen ihrer Text in deutscher Übersetzung in einer Anthologie zu publizieren.. Das ist, denke ich, , ein großer Schritt für jemanden, den die Flucht und die fremde Sprache für acht Jahre zum Schweigen verdammt hatten. Auch schrieb sie mir, dass sie 2015 zum ersten Mal wieder eine Hoffnung hatte, als Autorin gehört und gelesen zu werden. Sie nahm an einem Übersetzerworkshop teil, ihre Gedichte wurden ins Deutsche übersetzt, sie wurde Teil des Weiterschreiben-Projekts.

Kurz nachdem Lina und ich mit unserer Korrespondenz im Mai begonnen hatten, schreib sie mir in einer E-Mail, dass ihr Vater verhaftet worden und es ungewiss war, ob und wann er wieder freikommen würden. Mittlerweile war Linas Familie, bis auf ihren Vater, ihr nach Deutschland gefolgt. Ohnmächtige, wütende, fassungslose E-Mails vom gesamten Weiterschreiben-Team wurden ausgetauscht, auch ich fühlte mich zutiefst betroffen und zugleich nutzlos. Man wollte Lina Trost spenden, ihr Hoffnung machen, aber man wusste, es waren doch nur Worte. Auf einmal war das ganze menschliche Drama des fast sieben Jahre andauernden syrischen Kriegs, den man über Fernseher- und Computerbildschirme verfolgte, von dem man in den Nachrichten las, greifbar, auf einmal wirkte es nicht mehr so fern, sondern schien aus den Bildschirmen in unsere Realität zu kriechen. (Ich fühlte mich ins Jahr 2008 zurückversetzt, als ich, inmitten meines georgischen Urlaubs, von einem Tag auf den anderen, mitten im Kriegsgeschehen zwischen Russland und Georgien feststeckted und wie verrückt E-Mails an Freunde schrieb.)

Da habe ich begriffen, warum ich bei den Zeilen von Lina an die glühenden Augen meiner Großmutter denken musste. Warum mich unser E-Mailaustausch so empfänglich machte für Gefühle, die ich seit meiner Kindheit an einen fernen Ort verbannt hatte. Ich begriff, dass diese Vergangenheit, von der ich immer annahm, dass sie zu meiner Großmutter gehört, aber nicht zu mir, niemals vergangen ist. Dass sie genauso zu meiner Gegenwart gehört wie der Glaube, ein freier Mensch zu sein. Dass diese Gegenwart, auch hier, im sicheren Deutschland, durchaus Bestand hat.

Lina war jetzt. Lina machte das Dort zum Hier. Lina war diejenige, die schrieb:

„Sie kommen auf dem Land-, dem See- oder dem Luftweg
Fliehen von Hauptstadt zu Hauptstadt, von einer Grenze zur anderen

als seien die Landkarten Illusionen

und als sei ihr Anteil am Leben die Flucht

als ob das Land düstere Augen hätte, die im Nebel tränten... „

Und ein paar Zeilen später:

„Mir kam es so vor, als sei ich ein Lexikon meines Ortes

und wenn man mir sagte, oh Mädchen, das Reden ist nicht gestattet

weinte ich um meine Sprache: Verhülle mich! Am Rande der Rettung...“

Lina war das Glühen in den Augen meiner Großmutter. Sie fand Worte für die, die sie verloren hatten. Sie suchte nach einer Sprache inmitten der Sprachlosigkeit. Sie machte für mich etwas greifbar, was in seiner ganzen Grausamkeit zur Abstraktion verkommen war. Sie erzählte Geschichten von ihrer Welt, die zum Abschuss freigegeben worden war.

„Ich bin immer in Stücke zersprungen und alle meine Gedichte sind silberne Herzsplitter.“ Dieser Satz stammt von meiner Lieblingsdichterin Marina Zweitajewa und auch Lina legte diese Herzsplitter bloß.

Die Vergangenheit, von der ich annahm, sie wäre fort, ist niemals vergangen. Wir leben in einer Zeit, in der Nationalität wieder die stärkste Währung und die größte Identifikationsfläche wird. Wir bauen Stacheldrahtzäune und haben Angst vor Fremden, denn von denen heißt es unentwegt , sie seien so anders als wir. Es ist nahezu absurd, dass man sich am fremdenfeindlichsten in den Regionen zeigt, in denen die wenigsten Kulturen nebeneinander leben, in denen die wenigsten „Fremden“ zu Hause sind. Und je mehr Hass und Abschottung gepredigt wird, desto wichtiger ist es, zu erzählen, wer wir sind und woher wir kommen und wie viel wir doch gemeinsam haben. Desto wichtiger ist es, eine Sprache zu finden, die vielleicht nicht jedem zugänglich ist, die aber jeder mit seinen Sinnen ertasten kann, die ihn genau dort erreicht, wo er niemals glaubt, entdeckt zu werden. Diese Sprache heißt die menschliche und Linas Gedichte sind in genau dieser Sprache verfasst. Sie klagen nicht an, sie werfen nichts vor, sie ersticken nicht an der eigenen Wut oder Trauer, sie erzählen einfach, erzählen davon, wie es ihr und vielen Menschen aus ihrer Welt ergangen ist, und konfrontieren uns somit mit uns selbst und den Fragen unserer Gegenwart.

Ende Juni kam Linas Vater frei. Er ist seit dem 24.10 in Libanon. (Lina wies mich darauf hin, dass es der Geburtstag von Hertha König sei.) Die ganze Familie hofft, dass er bald nach Deutschland ausreisen darf. Und derweil schreibt Lina:

„- Wo gehe ich mit meinen Gedichten hin?

- Heb ein kleines Grab unter deinem Kissen aus und schlaf damit deine Träume wahr werden...

- Was mach ich mit der Zeit?

- Brich sie auseinander wie einen Granatapfel....

- Warum sterben die Tyrannen?

- Damit die Völker leben....“

Und verteilt weiterhin ein paar von ihren Herzsplittern.

 

 

Laudatio auf Lina Atfah von Nino Haratischwili zur Verleihung des Kleinen Hertha Koenig-Literaturpreises

 

 

Ich bin Lina nicht begegnet. Bis heute. Aber ich hatte gleich zu Beginn unserer Korrespondenz das Gefühl, sie zu kennen. Ich maße mir nicht an zu denken, dass dieses Gefühl einigen Parallelen in unseren Biografien geschuldet ist. Dass wir beide Kinder der Achtziger sind, dass wir beide weggegangen sind aus dem Land unserer Kindheit, dass wir beide in der Literatur eine Heimat gefunden haben, dass wir beide unsere Sprachen wechseln, sie neu finden mussten, dass wir beide diesen etwas geheimnisvoll-nervigen Stempel „exotisch“ umgehen müssen, um jenseits der Klischees unsere Geschichten erzählen zu können, dass Deutschland uns zu einem zweiten, oder besser gesagt, zu einem anderen Zuhause geworden ist. Genauso wenig mag ich irgendwelche Parallelen in den Geschichten unserer Herkunftsländer suchen, die beide einen Reigen aus Krieg und Gewalt getanzt haben oder heute noch tanzen.

Es wäre falsch zu behaupten, unsere Erfahrungen oder Erinnerungen wären ähnlich oder gar gleich, denn das wäre leicht zu widerlegen, würden wir Nachforschungen anstellen und die Fotoalben in unseren Köpfen durchblättern. Ich glaube auch nicht, dass es sinnvoll ist, irgendwelche Überschneidungen des Leids zu suchen, denn das Land, aus dem ich komme, lebt heute – trotz der von Russland okkupierten Territorien – in Frieden. Das Land, aus dem Lina kommt, ist mittlerweile zum Sinnbild einer modernen Menschheitstragödie und allen voran des menschlichen Versagens geworden. Aber das ist ein anderes Thema.

Ich finde es falsch, eine künstliche Nähe zu behaupten, um eine plausible Erklärung dafür zu finden, was mich zu Lina oder viel mehr zu ihren Gedichten gebracht und wie sich mich in ihren schaurig-schönen Banngezogen haben.

Denn simpel gesagt habe ich Linas Literatur erst durch das Projekt „Weiterschreiben“ entdeckt. - Lina und ich wurden einander zugewiesen, ohne viel von einander zu wissen. Wir begannen mit dem Austausch von E-Mails. Ich hatte mir keine großen Gedanken darüber gemacht, was daraus entstehen sollte oder könnte, ich weiß noch, dass ich mich etwas unsicher gefühlt habe – was könnte ich Lina anbieten, wie könnte ich ihr helfen, im literarischen Deutschland besser anzukommen? Ich wusste, dass sie seit einigen Jahren in Deutschland lebte, die Sprache lernte und Lyrik schrieb – die in ihrer Heimat nicht veröffentlich werden durfte und die in Deutschland noch kein richtiges Zuhause gefunden hatte.

Ich bin mit Lyrik großgeworden. Hauptsächlich mit russischer, georgischer und deutscher. Meine Großmutter konnte seitenweise Achmatowa und Jessenin rezitieren und stets glühten ihre Augen dabei, immerzu betonte sie die Schönheit der Sprache und wies mich auf die Feinheiten einzelner Wortkombinationen hin. Sie wurde in den 1930ern geboren, zur Zeit der Stalinistischen Repressionen, und wie jeder Sowjetmensch, war auch für sie die Lyrik eine Art Urgewalt, eine mächtige Waffe gegen das System, eine codierte, geheime Sprache, in der die vielen Millionen Menschen, die in einer Diktatur lebten, miteinander kommunizieren und sich austauschen konnten. Man sprach gar vom poetischen Widerstand und von der „zweiten Kultur“.

Ich konnte diese Begeisterung, diese Aufruhr, mit der sie mir die Verse vortrug, nur bedingt nachvollziehen – die Zensur hatte in den 1980ern natürlich nachgelassen, auch war ich zu jung, um die gesamte politische Dimension, die sich in diesen Zeilen verbarg, nachvollziehen zu können, aber mit der Zeit, als ich mich Jahre später auf die Spuren des russischen Symbolismus begab, begriff ich, was sie so entflammen ließ – es war die Möglichkeit, das Unsagbare, das Verbotene, das Unterdrückte, das Schmerzliche einer ganzen Nation und somit auch eines jedes Einzelnen in Worte zu fassen. Vom Fabrikarbeiter bis hin zum Arzt – sie alle waren vereint in einem System aus Angst und Unterdrückung, und sie alle waren auf dieselbe Art und Weise wortlos. Sicherlich besaßen manche mehr und manche weniger Privilegien, aber allen wurden die Flügel gleichermaßen beschnitten, alle waren gleichermaßen Gefangene in ihrem eigenen Land. Und einzelne Menschen, in diesem Fall die Dichter, die ihre Zeilen nicht selten mit unsagbarem Leid oder gar mit dem Tod bezahlen mussten – sprachen für all diese Sprachlosen. Sie fanden Worte für das, wofür die anderen keine hatten. Sie fanden Umschreibungen und Übersetzungen für all die Gefühle, die die Menschen in diesem riesigen Reich in sich trugen und doch niemals offen zeigen durften.

Als ich Linas erstes Gedicht las, musste ich merkwürdigerweise an meine Großmutter und ihre glühenden Augen denken, wie sie die Zeilen bestimmter Dichter vortrug, als wolle sie mir mit ihrem Blick noch so viel mehr verraten, als die Worte, die sie aufsagte, als verberge sich hinter ihnen noch ein viel tiefergehender Sinn und ein doppelter, wenn nicht gar dreifacher Boden. Ich konnte diese Böden nicht alle erfassen, aber ich ahnte, ich spürte sie.

Trotz der Gegenwärtigkeit dieses Anblicks, den ich sofort vor Augen habe, wenn ich an meine Großmutter denke, erschien mir dieses Glühen, dieses Geheimnis, das sie mit so vielen aus ihrer Generation teilte und das mir nie ganz zugänglich war, als etwas sehr weit Zurückliegendes, wie ein Relikt aus einer vergangenen Epoche. Denn für mich, als eine in den letzten Atemzügen der Sowjetunion Geborene, war diese Art von Zensur und Angst nicht wirklich greifbar und vorstellbar. Als ich meine ersten literarischen Schritte unternahm, lebte ich zwar in einem bürgerkriegszerrüteten Land, in dem das tägliche Überleben einem Kreuzzug durch den Dschungel glich, aber dennoch war es bereits ein freies Land und niemand interessierte sich dafür, was ich da aufs Papier brachte. Die Menschen hatten ganz andere Sorgen.

Später, nach meinem Umzug nach Deutschland und nach dem Wechsel der Sprache, fühlte ich mich noch freier, als hätte mir die erlernte deutsche Sprache eine Distanz ermöglicht, die ich benötigte, um bestimmte Dinge aufs Papier zu bringen, die ich vielleicht in meiner Muttersprache nicht zu schreiben vermocht hätte. So oder so war für mich das Schreiben zwar immer eine Art Grenzüberschreitung, ein Zustand, als würde man durch ein Mikroskop auf das Leben schauen, aber es war niemals etwas, das ich mir erkämpfen musste, es war niemals etwas, das mich auch nur ansatzweise in so etwas wie Lebensgefahr brachte, niemals etwas, das einer Art codierter Geheimsprache glich – wie im Falle der Generation meiner Großeltern.

Lina, die 1989 in der syrischen Stadt Salamiyah zur Welt kam und im Kreis einer großen Familie aufwuchs, schreibt seit ihrer Kindheit Gedichte. Sie nahm an vielen Lesungen und verschiedenen literarischen Veranstaltungen teil, bis sie, damals 17-jährig, ein Gedicht vortrug, das sie wegen seines politischen und sozialen Inhalts mit dem Regime in Konflikt brachte. Sie wurde der Gotteslästerung und Staatsbeleidigung beschuldigt. Und das war nicht 1937, sondern 2006. Ihr Lyrikband „Am Rande der Rettung“, der danach veröffentlicht wurde, konnte nur außerhalb von Syrien erscheinen.

2013 musste Linas Mann Syrien verlassen, während Lina ein Jahr in der Ungewissheit und unter dem ständig wachsenden Druck der Regierung lebte. Sie wurde immer wieder zu verschiedenen Befragungen und Untersuchungen in Damaskus vorgeladen – „ich überlebte, aber mein Herz blieb dort“, schrieb sie mir. 2014 gelang auch ihr die Ausreise. Als ein neuer Osman und als eine neue Lina seien sie und ihr Mann sich nach diesem Jahr der Trennung in Deutschland wiederbegegnet.

Die Erfahrung, aus der Heimat fliehen zu müssen, ist, so denke ich, in jeder menschlichen Biografie ein harter Schnitt, eine Zäsur, ein Teilen in Davor und Danach, aber für einen Autor ist es eine doppelte Entwurzelung, ein Verlust der Sprache und somit ein Sprung in die Unerträglichkeit des Ungewissen. Bei Lina hat es acht Jahre gedauert, bis sie in Deutschland, ihrer Wahlheimat, ihre Sprache wiederfand. Erst 2015, schreibt sie, bekam sie die Möglichkeit, in Köln an einer Lesung teilzunehmen, eine Art Türöffner – denn sie erhielt daraufhin das Angebot, einen ihrer Text in deutscher Übersetzung in einer Anthologie zu publizieren.. Das ist, denke ich, , ein großer Schritt für jemanden, den die Flucht und die fremde Sprache für acht Jahre zum Schweigen verdammt hatten. Auch schrieb sie mir, dass sie 2015 zum ersten Mal wieder eine Hoffnung hatte, als Autorin gehört und gelesen zu werden. Sie nahm an einem Übersetzerworkshop teil, ihre Gedichte wurden ins Deutsche übersetzt, sie wurde Teil des Weiterschreiben-Projekts.

Kurz nachdem Lina und ich mit unserer Korrespondenz im Mai begonnen hatten, schreib sie mir in einer E-Mail, dass ihr Vater verhaftet worden und es ungewiss war, ob und wann er wieder freikommen würden. Mittlerweile war Linas Familie, bis auf ihren Vater, ihr nach Deutschland gefolgt. Ohnmächtige, wütende, fassungslose E-Mails vom gesamten Weiterschreiben-Team wurden ausgetauscht, auch ich fühlte mich zutiefst betroffen und zugleich nutzlos. Man wollte Lina Trost spenden, ihr Hoffnung machen, aber man wusste, es waren doch nur Worte. Auf einmal war das ganze menschliche Drama des fast sieben Jahre andauernden syrischen Kriegs, den man über Fernseher- und Computerbildschirme verfolgte, von dem man in den Nachrichten las, greifbar, auf einmal wirkte es nicht mehr so fern, sondern schien aus den Bildschirmen in unsere Realität zu kriechen. (Ich fühlte mich ins Jahr 2008 zurückversetzt, als ich, inmitten meines georgischen Urlaubs, von einem Tag auf den anderen, mitten im Kriegsgeschehen zwischen Russland und Georgien feststeckted und wie verrückt E-Mails an Freunde schrieb.)

Da habe ich begriffen, warum ich bei den Zeilen von Lina an die glühenden Augen meiner Großmutter denken musste. Warum mich unser E-Mailaustausch so empfänglich machte für Gefühle, die ich seit meiner Kindheit an einen fernen Ort verbannt hatte. Ich begriff, dass diese Vergangenheit, von der ich immer annahm, dass sie zu meiner Großmutter gehört, aber nicht zu mir, niemals vergangen ist. Dass sie genauso zu meiner Gegenwart gehört wie der Glaube, ein freier Mensch zu sein. Dass diese Gegenwart, auch hier, im sicheren Deutschland, durchaus Bestand hat.

Lina war jetzt. Lina machte das Dort zum Hier. Lina war diejenige, die schrieb:

„Sie kommen auf dem Land-, dem See- oder dem Luftweg
Fliehen von Hauptstadt zu Hauptstadt, von einer Grenze zur anderen

als seien die Landkarten Illusionen

und als sei ihr Anteil am Leben die Flucht

als ob das Land düstere Augen hätte, die im Nebel tränten... „

Und ein paar Zeilen später:

„Mir kam es so vor, als sei ich ein Lexikon meines Ortes

und wenn man mir sagte, oh Mädchen, das Reden ist nicht gestattet

weinte ich um meine Sprache: Verhülle mich! Am Rande der Rettung...“

Lina war das Glühen in den Augen meiner Großmutter. Sie fand Worte für die, die sie verloren hatten. Sie suchte nach einer Sprache inmitten der Sprachlosigkeit. Sie machte für mich etwas greifbar, was in seiner ganzen Grausamkeit zur Abstraktion verkommen war. Sie erzählte Geschichten von ihrer Welt, die zum Abschuss freigegeben worden war.

„Ich bin immer in Stücke zersprungen und alle meine Gedichte sind silberne Herzsplitter.“ Dieser Satz stammt von meiner Lieblingsdichterin Marina Zweitajewa und auch Lina legte diese Herzsplitter bloß.

Die Vergangenheit, von der ich annahm, sie wäre fort, ist niemals vergangen. Wir leben in einer Zeit, in der Nationalität wieder die stärkste Währung und die größte Identifikationsfläche wird. Wir bauen Stacheldrahtzäune und haben Angst vor Fremden, denn von denen heißt es unentwegt , sie seien so anders als wir. Es ist nahezu absurd, dass man sich am fremdenfeindlichsten in den Regionen zeigt, in denen die wenigsten Kulturen nebeneinander leben, in denen die wenigsten „Fremden“ zu Hause sind. Und je mehr Hass und Abschottung gepredigt wird, desto wichtiger ist es, zu erzählen, wer wir sind und woher wir kommen und wie viel wir doch gemeinsam haben. Desto wichtiger ist es, eine Sprache zu finden, die vielleicht nicht jedem zugänglich ist, die aber jeder mit seinen Sinnen ertasten kann, die ihn genau dort erreicht, wo er niemals glaubt, entdeckt zu werden. Diese Sprache heißt die menschliche und Linas Gedichte sind in genau dieser Sprache verfasst. Sie klagen nicht an, sie werfen nichts vor, sie ersticken nicht an der eigenen Wut oder Trauer, sie erzählen einfach, erzählen davon, wie es ihr und vielen Menschen aus ihrer Welt ergangen ist, und konfrontieren uns somit mit uns selbst und den Fragen unserer Gegenwart.

Ende Juni kam Linas Vater frei. Er ist seit dem 24.10 in Libanon. (Lina wies mich darauf hin, dass es der Geburtstag von Hertha König sei.) Die ganze Familie hofft, dass er bald nach Deutschland ausreisen darf. Und derweil schreibt Lina:

„- Wo gehe ich mit meinen Gedichten hin?

- Heb ein kleines Grab unter deinem Kissen aus und schlaf damit deine Träume wahr werden...

- Was mach ich mit der Zeit?

- Brich sie auseinander wie einen Granatapfel....

- Warum sterben die Tyrannen?

- Damit die Völker leben....“

Und verteilt weiterhin ein paar von ihren Herzsplittern.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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